Das Schubladendenken

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Berlin, im April 2012

Irina betrachtete sich die vier jungen Männer, die da gerade die Bar betreten hatten. Der Bordellbetreiber, der auf den klischeehaften Namen Ronny hörte, erklärte ihnen gerade ganz in Ruhe den Ablauf des Geschäfts. Sie wunderte sich darüber ein wenig, denn sonst wurde dieser Job immer von Valerie, der freundlichen Dame hinter der Bar, übernommen. Valerie war ausschließlich für das Bedienen in der sogenannten Flirt-Lounge, sowie für den Empfang neuer Gäste zuständig. Außerdem diente sie den Mädchen als eine Art Kummerkasten und hatte stets ein offenes Ohr für alle. Eigene Kunden bediente sie nicht.

Als erstes ging ihr Blick zu dem großgewachsenen, leicht gebräunten Mann mit Sonnenbrille. Aufgrund der Tatsache, dass er diese drinnen nicht abgenommen hatte, schoss ihr direkt der Name „der Poser" für ihn in den Kopf. Auch seine Körperhaltung sprach dafür. Breitbeinig stand er da, mit dem Kopf nach oben, den Armen locker vor der Brust verschränkt und mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht. Er hörte sich aufmerksam das an, was ihnen gerade von Ronny erzählt wurde, ließ seinen Blick aber ab und zu auch interessiert über die Mädchen, die gerade hier saßen, schweifen.
Sie glaubte, sollte seine Wahl auf sie fallen, könnte das durchaus erträglich werden. Er würde wahrscheinlich nicht viel von ihr verlangen, sondern wollte ihr zeigen, was er drauf hatte und sich alle Mühe geben, um es einer „Expertin" wie ihr zu besorgen.

Als zweites betrachtete sie sich den ziemlich dünnen, stark tätowierten Mann, der neben dem Poser stand. Irina fiel es bei ihm etwas schwerer, ihn einzuschätzen. Die Tattoos ließen ihn auf den ersten Blick hart und außergewöhnlich aussehen. Man hätte daraus schließen können, dass er nicht der Typ für 08/15-Kuschelsex war, sondern es eher ausgefallener mochte. Auf den zweiten Blick fiel ihr jedoch auf, dass in seinem relativ hübschen Gesicht rein gar nichts von der Härte zu erkennen war, die sein Körper signalisierte. Er hörte Ronny ebenfalls zu und sah sich auch ab und zu wie der Poser im Raum um, jedoch war sein Blick dabei nicht ganz so selbstbewusst. Eher strahlte er Nervosität und Unsicherheit aus. Ab und an schaute er auf sein Handy und wirkte dabei so, als ob er froh wäre, wenn er bald wieder hier raus gehen konnte. Er machte den Eindruck, als wäre er von den anderen überredet worden, mitzukommen und darum gab sie ihm in Gedanken die Bezeichnung „der Mitläufer". Es war bei ihm durchaus denkbar, dass er überhaupt nicht vorhatte, mit einem Mädchen aufs Zimmer zu gehen und eher einer war, der sich die Zeit in der Bar vertrieb, bis seine Kumpels die Sache hinter sich gebracht hatten.

Der dritte Mann, den sich Irina nun ansah, war der größte in der Gruppe. Er war völlig durchschnittlich gekleidet und hatte auf den ersten Blick auch keine auffälligen Merkmale, die ihr speziell ins Auge fielen. Er hielt sich ein Stück hinter allen, nickte ab und zu und stellte interessiert die ein oder andere Frage. Seit er hier war, lag sein Fokus ausschließlich auf Ronny oder seinen drei Begleitern. Er hatte bisher keinen einzigen Blick auf die Mädchen geworfen. Sie konnte ihn spontan nicht in irgendeine Schublade stecken und darum fiel ihr auch kein Name für ihn ein.

Als sie sich den Kleinsten der vier ansah, wurde ihr etwas mulmig, auch wenn sie gar nicht genau sagen konnte, warum. Alles an ihm sah teuer aus, von den Schuhen an bis zu der protzig glitzernden Uhr an seinem Handgelenk. Völlig ungeniert ließ er seinen Blick an jedem Mädchen auf und ab wandern und Irina meinte, in seinen Augen etwas Düsteres aufblitzen zu sehen. Sie hoffte, seine Wahl würde nicht auf sie fallen. Er wirkte sehr hart und arrogant und sie hatte das dringende Bedürfnis, sich sofort unsichtbar zu machen. Darum starrte sie auch direkt auf den Boden, als sein Blick auf ihren traf.

Ronny sagte dann, die vier sollten sich nun mal ein paar Mädchen für ihr Vorhaben aussuchen, danach würde man über alles weitere sprechen. Der Poser und der Proll gingen grinsend voraus, der Mitläufer und der Große folgten ein paar Schritte dahinter und sahen sich ab und zu etwas unsicher an.
Der Blick des Prolls hatte schon viel zu oft an ihr gehangen, darum bereitete sie sich innerlich schon einmal auf das Schlimmste vor.





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