Der Schock

242 23 26
                                    

Berlin, im Dezember 2013

Zuhause angekommen, stand Benni mit rasendem Herzen im Fahrstuhl. Er machte sich zuerst große Hoffnungen, dass Eva vielleicht gar nicht da sein würde, doch so wie er sein Glück in der letzten Zeit kannte, verwarf er diesen Gedanken schnell wieder.
Was sollte er ihr gleich bloß sagen? Er war die ganze Nacht weg gewesen und hatte alle ihre zahlreichen Nachrichten und Anrufe ignoriert. Als er sich selbst in dem Spiegel, welcher sich an der kompletten hinteren Wand des Aufzugs befand betrachtete, wurde seine Angst nur noch größer. Er und Irina hatten die ganze Nacht über keine Minute lang geschlafen und das sah man ihm jetzt auch deutlich an. Obwohl die Nacht sehr schön war und er jeden Augenblick davon genossen hatte, sah er richtig fertig aus. Seine Frisur saß äußerst seltsam, seine Augen waren klein von der Müdigkeit und dicke, dunkle Augenringe befanden sich darunter. Außerdem war er tierisch nervös, was Eva garantiert nicht entgehen würde. Sie hatte irgendwie einen sechsten Sinn oder so etwas, mit dem sie jedes einzelne mal direkt merkte, wenn irgendwas mit Benni los war.
Noch hatte er die Taste für sein Stockwerk nicht gedrückt. Er atmete tief ein und aus. Er konnte jetzt nicht da hoch gehen. Noch nicht. Er war noch viel zu deprimiert davon, dass er Irina nach dieser schönen Nacht wieder zurück in ihr Elend hatte bringen müssen. Evas Gezeter würde er jetzt ganz bestimmt nicht zusätzlich aushalten können.
Er drückte auf den Türöffner und verließ den Aufzug und kurz darauf auch das Haus. Eiskalter Wind peitschte ihm ins Gesicht.
Ziellos lief er durch die Straßen. Der Schnee war hoch und ab und zu bekam er etwas davon in die Schuhe, sodass seine Socken bald komplett nass und kalt waren. Es wurde immer windiger und die dicken Schneeflocken flogen ihm unaufhaltsam ins Gesicht. Es war richtig ungemütlich und außer ihm waren nur sehr wenige Menschen auf der Straße unterwegs. Doch das war ihm egal, Hauptsache er musste nicht zu Eva.
Irgendwann, als er seine Hände schon nicht mehr spüren konnte und er das Gefühl hatte, dass seine Nase ihm gleich einfach hartgefroren aus dem Gesicht fallen würde, kehrte er in die erstbeste Kneipe ein und ließ sich auf einen Hocker an der Bar fallen. Dahinter stand eine großgewachsene, rothaarige Frau. Benni schätzte sie auf etwa Ende vierzig. Sie trug einen Minirock aus Leder und ein knallenges Top, aus dessen Ausschnitt zwei gigantische Brüste herausquollen.
„Was darfsen sein, Jungchen?", fragte sie und knatschte dabei auf ihrem Kaugummi herum.
„Vodka. Viel Vodka", antwortete Benni, stützte seine Ellbogen auf dem Tresen ab und legte die Stirn in seine Handflächen. Kurz darauf spürte er, wie ein Glas dicht neben seinem Arm auf den Tresen geknallt wurde und ein wenig vom Inhalt spritze ihm auf sein Hemd. Er setzte sich auf, nahm es an sich und kippte es in einem Zug. „Noch einen."
Auch den zweiten leerte er sofort, dann schob er das Glas von sich weg und sah sich in der Kneipe um. Es war ziemlich düster, Tische und Stühle hatten ihre besten Jahre schon längst hinter sich, auf dem Boden befanden sich Brandlöcher und andere undefinierbare Flecken, die Tapete an der Wand bröckelte bereits und es stank nach Alkohol, Zigarettenrauch und Verzweiflung.
Es war noch nicht einmal zehn Uhr am Morgen und dementsprechendes Publikum saß auch außer ihm hier drin. Mit seinem Anzug von Dolce & Gabbana, dem besten den er besaß, war er von außen betrachtet völlig deplatziert inmitten dieser Horde von arbeitslosen, abgefuckten Pennern, die mit schmuddeligen Klamotten und strähnigem Haar gnadenlos ihren Frühschoppen in sich hinein schütteten. Doch Benni verurteilte sie nicht. Er war nicht besser als sie. Sie alle liefen vor irgendetwas oder irgendjemandem davon und flüchteten sich hier, in einer ranzigen Eckkneipe, in den Alkohol, in dem verzweifelten Versuch, die Realität nur noch ein bisschen, nur noch ein ganz kleines bisschen, von sich fernzuhalten.
Die Verzweiflung steckte ihm in der Kehle, sie drohte ihm die Luft zum Atmen zu nehmen und Benni bestellte sich noch einen dritten Vodka, der sich seinen Hals hinunter brannte, den Knoten aber nicht lösen konnte. Er fühlte sich wie ausgekotzt, vollkommen unwohl in seiner Haut. Es ging ihm scheiße, richtig scheiße und er hasste es.
Sein Leben war doch eigentlich immer gut gewesen, er hatte sich um nichts und niemanden gesorgt. Sein komplettes Dasein war eine einzige Party gewesen und jetzt steckte er in irgendetwas fest, das er selbst nicht verstand. Früher war es so einfach gewesen, einfach glücklich zu sein, doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern, wie das ging.
Der vierte Vodka fand den Weg in sein Glas, ohne dass er danach fragen musste. Er hatte aus einem Gespräch mit einem anderen Gast herausgehört, dass die Schnalle an der Bar Mandy hieß und Mandy machte ihren Job verdammt gut. Sie wusste, was er brauchte, ohne dass er sich erst bemerkbar machen musste. Das lächerlich kleine Schnapsglas wurde für den fünften gegen ein größeres Glas getauscht und sie schüttete nun auch deutlich mehr Vodka hinein.
„Trouble an der Börse, oder wat?", wollte Mandy wissen und warf Benni einen skeptischen Blick zu. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen so gut gekleideten und sauberen Gast im „Pilsner Eck" gesehen zu haben.
Benni hob seinen Blick und Mandy sah so viel Schmerz in seinen Augen, dass ihr die Frage, trotz ihrer ruppigen Art, die sie zwangsläufig in so einem Schuppen an den Tag legen musste, direkt leid tat.
Versöhnlich grinsend füllte sie ihm nochmal nach und Benni trank direkt. Obwohl er in der Nacht ziemlich viel gegessen hatte und sein Magen noch gut gefüllt war, merkte er den Alkohol ziemlich schnell. Sein Kopf wurde ein kleines bisschen leichter und nach den nächsten drei Shots kamen ihm seine Probleme auch nur noch halb so schlimm vor, aber dennoch so schlimm, dass er sie kaum ertragen konnte.
„Weißt du, Mandy..." begann er irgendwann mit schwerer Zunge und ihren Namen extrem langziehend „...mein Leben ist gar nicht so toll, wie ihr alle denkt. Ich hab hier diesen Anzug an und diese Uhr und dieses Geld in meinem scheiß Portemonnaie, aber was ist das alles wert, wenn du ansonsten nix hast?"
Er zog seine Brieftasche aus dem Jackett, nahm das Bündel Geldscheine und legte es auf die Bar. Er blätterte ein paar Scheine über den Tresen zu Mandy, dann erhob er sich und taumelte durch die Kneipe. An jedem Tisch, an dem er stehen blieb, ließ er ein paar Scheine fallen.
„Ich brauch den ganzen Scheiß doch nicht", sagte er. Dann setzte er sich wieder an die Bar, ließ seinen Kopf auf seine Unterarme fallen und schlug frustriert mit der Handfläche auf das klebrige Holz. „Ich brauch den ganzen Scheiß doch gar nicht."
Es war kurz ganz still im Raum. Dann konnte er mit geschlossenen Augen verhaltenes Gemurmel hören und bald darauf schwoll die Lautstärke der Gespräche wieder auf den normalen Geräuschpegel an.
„Ich hasse mein Leben", sagte er und schaute Mandy ins Gesicht. Diese knatschte wieder geräuschvoll auf ihrem Kaugummi herum und polierte mit einem dreckigen Handtuch einen Bierschoppen.
„Wärst ja nicht hier, wenns nicht so wär. Dann änder es doch."
Benni verdrehte die Augen. „Wie denn?"
Seine Zunge wurde immer schwerer, das Sprechen war furchtbar anstrengend und in seinem Kopf drehte sich alles.
„Jedenfalls nicht, indem du dich hier versteckst, bei uns Verlieren. Wir sind Aussätzige, bei uns ist der Hase über die Höhe, aber bei dir?", murmelte Mandy vor sich hin und musterte Benni.
Benni seufzte. Es würde ihm nichts bringen, ihr seine Lebensgeschichte zu erzählen. Er schätzte, er würde von ihr keine hilfreichen Ratschläge bekommen. Ihr Leben war zu verkorkst, er sah ihr an, dass sie schon einiges mitgemacht hatte. Sie war verbittert, gefangen in sich selbst und ihren Problemen und konnte nicht mal mehr sich selbst helfen. Wie sollte sie ihm da denn helfen können, diese gebrochene Frau, deren beste Jahre schon längst vorüber und vergessen waren?
Mandy griff über sich ins Regal, nahm den Vodka und stellte Benni die Flasche vor die Nase.
Benni beobachtete, wie ein paar Männer gingen und neue dafür ihre Plätze einnahmen. Er sah dabei zu, wie Glas um Glas über den Tresen geschoben wurde und lauschte Gesprächen, die sich größtenteils um Hartz IV, Sex und Langeweile drehten.
Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte mit viel Mühe fest, dass er schon seit über drei Stunden hier saß. Er war nicht nur leicht angetrunken, er war mittlerweile sturzbesoffen und konnte sich kaum noch auf dem Hocker halten.
Mandy bückte sich gerade in die Kühltruhe, um neue Colaflaschen rauszuholen und Benni starrte unverhohlen auf ihren Arsch. Eigentlich gar nicht so übel für eine Frau in ihrem Alter.
„Ey, gib mir mal so ne Cola", lallte Benni, als Mandy sich wieder aufrecht hinstellte. Mit genervtem Blick schob sie ihm eine rüber.
Benni schob seinen Hemdärmel ein wenig höher und legte somit seine glitzernde Rolex frei, die garantiert mehr wert war, als der gesamte Laden hier. Als Mandy sie erblickte, wurde ihr Gesichtsausdruck um einiges freundlicher und sie zog ihr Top noch ein kleines bisschen weiter runter, sodass ihre riesigen Brüste bei der nächsten Bewegung vermutlich vollständig entblößt würden.

Benni war so dermaßen fernab von gut und böse, dass er nur noch darüber mutmaßen konnte, wie das begonnen hatte, was als nächstes geschehen war. Eine kecke Bemerkung und ein aussagekräftiger Blick von Mandy, und schon hatte er sich mit heruntergelassener Hose in einem schimmeligen Lagerraum befunden und sie an Kästen von billigstem Bier gelehnt von hinten gefickt. Direkt im Anschluss hatte er sich übergeben müssen und nun irrte er schwankend durch die Straßen Berlins.
Als er vor einigen Stunden das Pilsner Eck betreten hatte, war er der Meinung gewesen, schlechter könnte es ihm nicht mehr gehen, doch nun wurde er eines besseren belehrt und erfuhr, dass es immer noch eine Steigerung gab. Ihm war kotzübel, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und sein schlechtes Gewissen fraß ihn fast auf, auch wenn er es durch seinen aktuellen Zustand nicht einmal in vollen Ausmaß wahrnehmen konnte.
Unterwegs stützte er sich an Häuserwänden ab und erbrach sich mehrmals auf den Bordstein. Die vorbeigehenden Passanten rümpften glücklicherweise allerhöchstens die Nase oder wechselten die Straßenseite, aber die meisten schienen sich nicht für ihn zu interessieren. Benni versuchte auf sein Handy zu schauen, doch er konnte es gerade nicht finden und gab die Suche danach schnell wieder auf. Viel wichtiger war es ihm vorwärts zu kommen und nicht zusammenzubrechen, nicht dass er als Krönung des ganzen vollgekotzt erfror und mitten auf der Straße vor aller Welt verreckte.
„Ich bin weit gekommen im Leben", schrie er einem Mann, der ihm entgegen kam, ins Gesicht. „Ich habs geschafft!"
Der Unbekannte zog die Augenbraue nach oben und lief an Benni vorbei. Doch damit konnte dieser sich nicht zufrieden geben. Er drehte sich um und gab dem Typen einen Schubs. „Ich rede mit dir!"
„Alter, was ist dein Problem?", fragte er. „Geh einfach nach Hause und lass es gut sein."
Nach Hause. Zuhause gab es eine Dusche und ein weiches, warmes Bett. Das konnte Benni jetzt wirklich gut gebrauchen. Eva hin oder her. Jetzt war sowieso alles zu spät und verloren.
Er wusste ohnehin nicht, wo er jetzt sonst hingehen sollte. Am ersten Weihnachtsfeiertag wartete sicherlich keiner von seinen Freunden darauf, dass er völlig besoffen und eingesaut vor der Tür stand und bevor er sich so seiner Familie präsentieren würde, würde er lieber auf der Stelle tot umfallen.
Stunden später kam Benni endlich an seinem Wohnhaus an. Er hatte keine Ahnung, wie er den Weg geschafft hatte und konnte sich kaum noch an etwas erinnern. Zitternd vor Kälte und vom Ekel vor sich selbst stand er im Fahrstuhl und drückte die Taste für das Dachgeschoss. Die Türen öffneten sich begleitet von einem leisen Pling und Benni stieg aus und horchte in das Innere der Wohnung hinein. Es schien ruhig zu sein und ihm fiel ein Stein vom Herzen. Er wollte sich jetzt einfach nur noch notdürftig saubermachen und schlafen gehen. Morgen, wenn er wieder nüchtern war, würde er sich damit beschäftigen müssen, was in der Kneipe passiert war.
Nachdem er seinen ruinierten Anzug ausgezogen und sich grob gewaschen hatte, taumelte er noch in die Küche und nahm sich eine Dose Cola, die er in einem Zug leerte. Als er sie dann in den Mülleimer werfen wollte, konnte er seinen Augen nicht trauen und er hoffte, er würde sich das bloß im Rausch einbilden. Er kniete sich auf den Boden und steckte seinen Kopf fast vollständig in den Eimer hinein. Er begann zu zittern und kalter Schweiß brach ihm aus sämtlichen Poren. Wimmernd zog er die Verpackung des Schwangerschaftstests mit zwei spitzen Fingern aus dem Abfall und entdeckte darunter auch gleich den Test selbst. Unter Krämpfen erbrach er sich noch einmal.
Als er vor einigen Minuten seine Wohnung betreten hatte, war er der Meinung gewesen, schlechter könnte es ihm nicht mehr gehen, doch nun wurde er eines besseren belehrt und erfuhr, dass es immer noch eine Steigerung gab.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 13, 2017 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Mädchen, mach die roten Lichter aus!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt