Die Entschuldigung

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Nachdem Irina Benni einige Tage zuvor die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, war sie noch eine ganze Weile danach tierisch wütend gewesen. Sie konnte sich einfach nicht erklären, was dieser Idiot nun schon wieder von ihr gewollt hatte.
Wollte seine aufgebrezelte Freundin vielleicht doch keinen Sex mit ihm haben, als sie wieder daheim waren und er war deswegen nochmal zu ihr gekommen?
Das machte aber auch irgendwo keinen Sinn, weil das hier doch alles so tief unter seinem Niveau lag.
Irina musste tatsächlich ein bisschen schmunzeln, als sie das Bild von Bennis Begleitung wieder vor ihrem inneren Auge hatte. Genau genommen hatte diese nämlich in ihrem knallengen Kleid, den hohen Schuhen und dem vollkommen überschminkten Gesicht noch billiger ausgesehen, als manche der Mädchen, die hier arbeiteten.

Irina sah auf ihre Uhr und beschloss, sich um die Ecke beim Bäcker mal einen Kaffee kaufen zu gehen, der ein bisschen besser war, als der Automatenkaffee, den es im Keller des Bordells gab. Die zwei Euro, falls sie tatsächlich noch einen Sirup dazu nahm, würde sie schon mal verschmerzen können.

Als Irina wenige Minuten später mit dem dampfenden Becher in der Hand wieder in ihrem Flur angekommen war, traute sie ihren Augen nicht. Ganz hinten auf der Fensterbank, in der Nähe ihres Zimmers, saß doch tatsächlich dieser Schnösel und zupfte sich nervös am Hemd herum.
Er sah nicht auf, sondern starrte durchgehend auf den Boden, darum gab sich Irina extra viel Mühe, leise zu laufen. Vielleicht konnte sie ja lautlos ihre Tür aufschließen und im Zimmer verschwinden, ohne dass er sie sah.
Wahrscheinlich hatte er schon geklopft und wusste, dass sie nicht im Zimmer war. Wenn er dann noch eine Weile hier draußen sitzen würde, würde er dann denken, dass sie so schnell nicht wiederkam und sich wieder vom Acker machen.
So zumindest sah Irinas Wunschvorstellung aus. Aber da ihre Wünsche nur selten erfüllt wurden, hörte Benni natürlich, wie sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Eigentlich war es nur logisch, dass das so war. Er war schließlich keine zwei Meter weg von ihr.

„Hey", sagte er leise. „Knall mir bitte nicht die Tür vor der Nase zu, okay?"
Irina öffnete wortlos die Tür und trat in ihr Zimmer, ließ die Tür jedoch hinter sich auf.
Benni stutze kurz und kam ihr dann nach. So wirklich damit gerechnet hatte er nicht, aber jetzt wollte er nicht kneifen und die Sache durchziehen.

Irina saß auf der Kante ihres Bettes und sah ihn einfach nur an, als er vorsichtig um die Ecke kam. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Eigentlich wollte sie ja auch gar nichts sagen, darum ließ sie ihm den Vortritt.

„Hör mal", sagte er nach einer ganzen Weile. „Was ich da abgezogen habe... das war nicht so okay von mir, das ist mir aber leider erst viel zu spät aufgefallen... Ach scheiße, ich bin einfach nicht so gut in sowas... Ich wollte dich nicht so eklig behandeln. Also... Entschuldigung halt."
Irina hatte so ungefähr mit allem gerechnet, aber mit einer Entschuldigung nicht.
„Ähm, okay", sagte sie nur und musterte Benni, der vor ihr stand wie ein kleiner Schuljunge vorm Direktor, skeptisch. Auch, wenn es nett von ihm gemeint war, empfand sie die Situation als ziemlich unangenehm.
Warum in aller Welt sollte er auch nett zu ihr sein? Jeden Moment würde er wahrscheinlich sein Portemonnaie zücken und irgendwas abartiges von ihr verlangen, wenn er sich schon einmal die Mühe gemacht hatte, hierher zu fahren.
„Warum machst du das hier?", fragte Benni aber stattdessen.
„Geld verdienen", antwortete Irina schulterzuckend. Wie gerufen stand ein Kunde im Türrahmen und lugte um die Ecke.
„Bist du fertig, oder...?", fragte dieser an Benni gerichtet.

Benni schaute unschlüssig in das Gesicht des Kunden, den Irina als „die Schildkröte" bezeichnete. Beim Gedanken, dass sie jetzt gleich mit diesem Ekel schlafen musste, zog sich alles in ihm zusammen.
„Nein, ich bin nicht fertig", antwortete Benni darum und machte die Tür zu.
Irina stand vom Bett auf und ging zur Tür, um nach der Klinke zu greifen. „Spinnst du? Du kannst mir doch keine Kunden verjagen! Verschwinde jetzt, du hinderst mich am Arbeiten. Hau ab!"
Benni griff nach Irinas Handgelenk. Jedoch tat er dies nicht brutal, sondern ganz vorsichtig. „Wie viel hätte er dir jetzt gezahlt?
„Achtzig", antwortete Irina und starrte auf Bennis Hand herunter.
Benni ließ sie wieder los, zog sein Portemonnaie aus seiner Hose und drückte ihr hundert Euro in die Hand.
„Dann machst du wenigstens keinen Verlust", meinte er mit einem schiefen Grinsen.
„Ich will dein Geld nicht", sagte Irina und hielt ihm das Geld wieder hin.

„Komm, nimm es bitte. Sozusagen als Entschädigung für mein Verhalten. Ich kann kaum noch schlafen, weil mich das so beschäftigt."
Irina seufzte und legte den Schein auf die Kommode neben der Tür. Wenn sie sich überlegte, was sie jetzt stattdessen alles mit der Schildkröte hätte tun müssen, war es vielleicht doch nicht so falsch, Bennis Geld anzunehmen. Auch, wenn sie sich nicht besonders gut dabei fühlte, stand sie einfach nicht in der Position, das einfach so ablehnen zu können.

„Warum sollte sich jemand wie du Gedanken darüber machen, wie er zu jemandem wie mir ist?", fragte Irina verständnislos. „Für euch sind wir doch nur Körper. Ware, die man kaufen kann. Sonst nichts."
Benni war etwas geschockt von dem, was Irina da sagte. Noch schockierender fand er es allerdings, dass er vor Kurzem ja selbst genau das von ihr gedacht hatte.

Er setzte sich vorsichtig auf den Stuhl, der dem Bett gegenüber stand. Die Vorrichtungen für Hand- und Fußfesseln, die an den Armlehnen und den vorderen Stuhlbeinen angebracht waren, versuchte er dabei zu ignorieren, was ihm aber kaum gelang. Sofort schossen ihm diverse Bilder in den Kopf, bei denen es ihm eiskalt den Rücken runter lief.

„Ich frage mich wirklich, warum ein Mädchen wie du so etwas tun muss. Wahrscheinlich geht es mich gar nichts an. Aber du scheinst nicht die dümmste zu sein und siehst doch auch nicht schlecht aus. Also, warum kannst du nichts anderes machen? Willst du... also willst du es mir...erzählen?", fragte Benni vorsichtig.
Alles in Irinas Innerem sträubte sich dagegen, Benni irgendwas von sich zu erzählen. In ihrer Vorstellung wollte er das nämlich nur wissen, damit er sein Leben danach als noch besser empfinden konnte, als er es sowieso schon tat.
Sie setzte sich ihm gegenüber auf die Bettkante und beobachtete ihn eine ganze Weile, ohne etwas zu sagen.
Zunächst schaute er auf seine Schuhe und zupfte dabei unbeholfen an den Ärmeln seines Hemdes herum. Nach einer Weile seufzte er und sah sich vorsichtig in ihrem Zimmer um. Erst nach ein paar Minuten, die Irina wie Stunden vorkamen, hob er den Blick, um sie direkt anzusehen.

Der Ausdruck, den sie nun ihn Bennis Gesicht las, erstaunte sie. Sie sah keinen Ekel und keine Abscheu. Seine Gesichtszüge hatten jetzt sogar etwas freundliches und warmes an sich. Und in seinen Augen glaubte sie echtes Interesse an ihr zu erkennen.

Seit sie in Deutschland war, war es nicht oft vorgekommen, dass sie jemand so ansah. Die ersten Tage in Berlin, noch bevor sie zum ersten Mal den am Ende unvermeidlichen Schritt durch die Tür des Bordells gemacht hatte, hatte sie wie eine Unsichtbare gelebt.
Sie war durch die Straßen gelaufen, hatte Menschen nach Arbeit gefragt, war einfach überall gewesen, wo sie eine kleine Chance vermutete. Doch man hatte sie entweder ignoriert oder oberflächlich und kühl behandelt, um sie eine Minute später wieder zu vergessen.
Sie hatte zwar hier ein paar Mädels, mit denen sie reden konnte, aber sie waren genauer betrachetet ja auch nur durch ihr gemeinsames Schicksal miteinander verbunden. Letztendlich war sich hier gezwungenermaßen jede selbst die Nächste und das Geld stand über allem anderen.

Irinas Lage war sowieso schon ziemlich aussichtslos. Sie hatte absolut nichts mehr, das sie noch verlieren konnte. Auch, wenn Benni so ekelhaft zu ihr gewesen war, freute sie sich doch ein wenig darüber, dass sich tatsächlich jemand wie er für ihr Schicksal zu interessieren schien.
Die Zeit hatte er ohnehin bezahlt und vielleicht war ein bisschen reden ja doch nicht ganz so schlimm wie das, was die Schildkröte stattdessen von ihr gewollt hätte.




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