Kapitel 2

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»Scarlett, wir würden gerne mal mit dir reden, hast du Zeit?«

Überrascht blickte ich von meinem Laptop auf und sah in die zaghaften Gesichter meiner Eltern, die gerade in mein Zimmer traten. Na toll.

»Worüber denn?«, antwortete ich und klang dabei bockiger als beabsichtigt. Ich sollte ihnen nicht noch mehr Material geben, um mich als eine hormongesteuerte, verrückte Teenagerin darzustellen.

Mein Vater kam näher und setzte sich auf meine Bettkante, wobei ich automatisch weiter nach hinten rückte. Körperkontakt war mir schon immer unangenehm gewesen, doch besonders in solch unberechenbaren Situationen, in denen ich keinerlei Kontrolle hatte, wurde ich fast verrückt, sobald jemand nur in meine Nähe kam.

Er bemerkte mein Unbehagen und wich offensichtlich verunsichert ein paar Zentimeter zurück, wobei ich mich augenblicklich entspannte und das Gefühl bekam, wieder atmen zu können.

Meine Mutter stand noch immer unschlüssig mitten im Raum herum und sah mich mit zitternden Lippen an. Sie sah aus, als würde sie gleich anfangen, zu weinen. Mein Vater machte die gleiche Beobachtung und fing an zu sprechen, um meine Aufmerksamkeit von ihr zu nehmen.

»Deine Mutter und ich planen das schon lange, aber letzte Nacht hat uns verdeutlicht, wie dringend du tatsächlich Hilfe brauchst. Ich habe mit deiner Psychologin telefoniert und wir sind uns einig, dass ein stationärer Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik das Allerbeste für dich und deine Gesundheit wäre.«

Das konnte nicht ihr verdammter Ernst sein.

Peinlich berührt von der unangenehmen Stille fuhr meine Mutter mit dem Vortrag fort. »Die Klinik ist in etwa dreißig Minuten von hier entfernt, also können wir dich oft besuchen kommen und–«

»Wer sagt, dass ich euch sehen wollen würde«, entgegnete ich, ohne ihnen in die Augen zu sehen, und blickte stur aus dem Fenster. Das draußen tobende Gewitter verschlechterte meine Stimmung noch mehr und meine Augen schmerzten. Ich war so müde. Müde von meinem Leben, meinen Eltern und insbesondere mir selbst. Was sollte so ein Klinikaufenthalt denn schon verändern?

Ich erinnerte mich an die Präsenz meiner Eltern und wandte ihnen widerwillig meinen angewiderten Blick zu. Erst jetzt fiel mir ein, was ich zuletzt gesagt hatte, doch ich bereute es nicht. Warum sollte ich in eine Klinik gehen, nur damit meine Eltern, die einen großen Teil meiner Probleme verkörperten, mich selbst dort besuchen?

Meine Mutter fand als erste ihre Stimme wieder. »Wie ich dir schon sagte, du brauchst eindeutig Hilfe, und ich halte es in diesem Haushalt einfach nicht mehr aus. Du bringst nichts als schlechte Laune und Probleme und ich möchte einfach meine Tochter von früher zurück. Kannst du das denn nicht nachvollziehen?«

»Nein, kann ich nicht«, erwiderte ich tonlos, meine Stimme hörte sich merkwürdig hölzern an, nicht wie ich selbst. »Denn ich werde nie wieder das sechs Jahre alte Mädchen sein, das du noch immer versuchst in mir zu sehen. Diese Zeit ist vorbei, verstehst du? Vorbei. Egal, ob krank oder gesund, ich werde nie wieder zwei geflochtene Zöpfe tragen oder lauthals Kinderlieder im Auto mitsingen. Ich bin sechzehn Jahre alt, wach endlich auf! Du wirst wohl mit mir vorlieb nehmen müssen, so wie ich jetzt bin!«

»Das kann ich aber nicht!«, schrie mir meine Mutter entgegen und rieb sich mit Mittel- und Ringfinger an der linken Schläfe entlang. Das tat sie immer, wenn sie aufgebracht war. »Genauer gesagt wir alle!«

Ich wagte einen Seitenblick auf meinen Vater, der mich mit seinem typischen ›Wir-Wollen-Dir-Doch-Nur-Helfen‹-Blick ansah, was mich endgültig aus meiner Haut fahren ließ.

»Wenn ihr mich so sehr verabscheut, warum setzt ihr mich nicht einfach vor die Tür?«, brüllte ich zurück und sprang schwunghaft von meinem Bett auf, wonach ich zuerst Probleme hatte, mein Gleichgewicht zu finden. In den letzten Monaten war mein Kreislauf immer schwächer geworden, bis ich schließlich sogar Probleme hatte, von meinem Bett zum Schreibtisch zu gehen, ohne dass mir schwarz vor Augen wurde.

»Wir verabscheuen dich doch nicht«, versuchte mein Vater mich zu besänftigen. »Genauer gesagt lieben wir dich so sehr, dass wir dein Leiden einfach nicht mehr mitansehen können. Bitte überlege es dir doch wenigstens.«

»Auf gar keinen Fall.«

»Schatz, denk doch mal nach, der Aufenthalt könnte dir wirklich helfen, und falls du nicht freiwillig zustimmst, können wir nach Empfehlung deiner Psychologin auch vor das Familiengericht ziehen und dort eine Zwangseinweisung einklagen, denn du stellst eindeutig eine große Bedrohung für dich selbst dar!«

»Nein! Ich gehe doch nicht in eine Psychiatrie, ihr habt sie wohl nicht mehr alle!«, rief ich entgeistert, schob sie aus dem Raum und knallte meine Zimmertür zu, während ich japsend nach Luft holte.

Bloß keine Panik, ein Anfall wäre das Letzte, was ich jetzt gebrauchen könnte. Sie würden das sowieso niemals durchziehen, schließlich brauchten sie dafür mein Einverständnis ... oder?

Während ich mich auf meine Atmung konzentrierte, die sich zum Glück langsam wieder beruhigte, dachte ich wider Willen über das Angebot meiner Eltern nach. Wie schlimm konnte es schon werden? Ich war so oder so schon am absoluten Tiefpunkt angekommen.

Andererseits verdiente ich es. All die Qualen und Ängste, sie gehörten mittlerweile zu mir, so beängstigend das auch war. Wie würde es sein, wenn ich gesund wäre? Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen und allein der Gedanke an Veränderung schlug mir auf den Magen.

Distanziert, als wäre ich in einem Computerspiel, blickte ich mich in meinem Zimmer um. Was hielt mich noch hier? Ich hätte schon vor Monaten eine Therapie in einer Klinik beginnen können, wäre vielleicht sogar fast gesund, aber hier saß ich. Allein. Plötzlich hörte ich einen lauten Schluchzer. Was war das? Doch als ich spürte, wie mir eine einzelne Träne über meine Wange lief, wurde mir klar, dass ich dieses Geräusch verursacht hatte.

Ich weinte. Schon wieder.

Von unten hörte ich meine Eltern miteinander diskutieren, es schien ein heftiger Streit zu sein, doch ich bekam es gar nicht richtig mit.

Denn ich hatte soeben eine Entscheidung getroffen, die sich wahrscheinlich auf mein gesamtes Leben auswirken würde.

Langsam und bedächtig schritt ich die schmalen Stufen der Treppe hinunter, die ins Erdgeschoss des Hauses führte, in dem ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Meine Eltern schienen mich noch nicht bemerkt zu haben, denn ihre lauten Stimmen drangen deutlich aus dem Wohnzimmer zu mir.

»Was sollen wir deiner Meinung nach tun? Wenn wir tatsächlich das Familiengericht benachrichtigen, wird sie nie wieder ein Wort mit uns wechseln!« Der dumpfe Bass meines Vaters, der sich mittlerweile in ein tiefes Grollen verwandelt hatte, schickte mir Schauer über mein Rückgrat.

»Das tut sie doch sowieso schon kaum noch!« Die schrille, sich überschlagende Stimme meiner Mutter bildete einen starken Kontrast, der mir Ohrenschmerzen bereitete, und ich konnte einfach nicht mehr nichtssagend danebenstehen.

Mit für mich kräftigen Schritten ging ich auf die beiden zu und stellte mich vor sie. Ein letztes Mal atmete ich tief durch und sprach schließlich die entscheidenden Worte aus, bedacht darauf, möglichst überlegt und entschlossen zu wirken, damit ich weiteren Diskussionen aus dem Weg gehen könnte.

»Ich tue es. Ich gehe in die Klinik, und zwar freiwillig.«

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt