Kapitel 28

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"Also, was möchtest du während deiner Therapie hier erreichen?"

"Ich weiß nicht."

"Gar nichts?"

"Ich weiß nicht."

Frau Hendel sah mich über den Rand ihrer Brillengläser abschätzend an und fuhr mit ihrem Fragebogen fort.

"Wie viele Stunden schläfst du jede Nacht? Es wäre gut, wenn du mir deinen Schlafrhythmus darlegen könntest."

"Ich habe keinen Schlafrhythmus."

Man konnte meiner Therapeutin förmlich ansehen, wie sehr sie dieser Termin ermüdete, doch ich hatte keine Schuldgefühle. Sie wusste um meine psychische und seelische Lage, wie konnte sie da eine objektive Kundgebung meines aktuellen Stands von mir verlangen?

Mein widerstrebendes Verhalten schien auch Frau Hendel aufzufallen; sie nahm ihre Brille ab, klappte diese zusammen und legte die Sehhilfe auf den schmalen Eichentisch, der zwischen uns stand. Ihr Gesicht war von zarten Fältchen übersäht und sie schien angespannt und genervt davon zu sein, diese Zeit mit mir verbringen zu müssen. Flüchtig überflog sie ein letztes Mal das vor ihr liegende Manuskript und schob es schließlich beiseite. Da war er wieder, dieser durchlöchernde, vorwurfsvolle Psychologenblick, der mich immer tiefer in meinen Stuhl sinken ließ.

"Weißt du, so kann ich nicht mit dir arbeiten, Scarlett. Ich muss schon etwas von dir zurückbekommen, irgendetwas."

Da sagte sie nichts Neues.

"Wie wäre es, wenn du mir von deinem Tag erzählst? Heute ist doch Dienstag, dann hast du ja bereits eine Nacht mit deiner neuen Mitbewohnerin in einem Zimmer verbracht, nicht wahr? Was ist da passiert? Kommt ihr schon gut zurecht?"

Zu viele Fragen.

"Sie ist ganz in Ordnung."

Meine wahrhaftige, weitaus positivere Meinung von Sam behielt ich lieber für mich. Bevor Frau Hendel sich eine Bilderbuchfreundschaft zwischen uns beiden ausmalte, würde ich sie lieber im Dunkeln über unsere echte Verbindung lassen.

Der Vorfall von gestern Abend hatte uns beide enger aneinandergeschweißt, als ich anfangs gedacht hätte. Langsam bildete sich zwischen Sam und mir ein filigranes Band der Freundschaft und des Vertrauens, das durch jeden noch so kleinen Einfluss von außen zerstört werden könnte. Das musste ich um jeden Preis verhindern.

"Was heißt das?"

Dass sie nett ist, verdammt.

"Es hätte schlimmer kommen können, das meine ich."

"Naja, das hört sich doch erst einmal ganz gut an, vorerst zumindest. Du musst dir über weitere dich betreffende Zimmerverlegungen übrigens keine Sorgen machen, denn dem Plan nach werdet ihr beide noch eine recht lange Zeit Zimmergenossinnen sein. Wir haben momentan sehr viele Neuankömmlinge, die noch einige Monate bleiben werden."

"Aha."

Während ich so gut es ging versuchte, desinteressiert zu wirken, lenkte sich meine Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema.

Flint.

Ich hatte seit ein paar Tagen nichts von ihm gehört und machte mir merkwürdigerweise Sorgen. Er hatte so selbstsicher und stabil gewirkt, ihm war doch nichts zugestoßen? Obwohl ich mit Sam gut zurechtkam, ihr seit gestern relativ nahe stand und sie mich mit ihrer direkten Art aufmuntern und ablenken konnte, waren die Gespräche mit Flint etwas Besonderes für mich gewesen. Sam war laut, lustig und robust, während Flint etwas Stilles und Unergründliches an sich hatte, das mich immer wieder beschäftigte und einfach nicht losließ.

Was war sein Hintergrund?

Warum war er hier?

"Scarlett, kannst du mir bitte zuhören, wenn ich mit dir spreche?"

"Ja."

"Gut, denn ich habe noch ein paar Fragen an dich."

Ich wollte raus aus diesem Raum.

Raus aus dieser Klinik.

Mit der lauten Sam und dem leisen Flint.

"Wie viel isst du?"

"Das haben Ihnen die Betreuer doch sicherlich schon berichtet, wieso fragen sie mich dann? Das ist doch Blödsinn."

Scheinbar fassungslos sah mich Frau Hendel aus ihren aufgerissenen Augen an und holte schon Luft, um eine sicherlich angesäuerte Antwort mit einer angehängten Mahnung zu meinem Verhalten ihr gegenüber zu äußern, doch ich nahm ihr den Wind aus den Segeln.

"Vermutlich sollte ich freundlicher, geduldiger, naiver, dankbarer und untergebener sein, doch das werde ich nicht tun. Hören Sie, ich bin jetzt seit über einer Woche hier und habe keinerlei Unterstützung von Ihnen erfahren! Nebenbei bemerkt scheint sich Herr Olsen auch als einziger Betreuer auch nur annähernd für meine Lage zu interessieren, wohingegen ich von den anderen entweder wie Luft behandelt oder zurechtgestutzt wurde, sobald ich nur um einen Gefallen fragte. Die einzige, kleine Verbesserung in meinem Kopf wurde durch andere erzielt, die keine Ausbildung im Umgang mit Kranken oder ein Studium in Psychologie abgeschlossen haben, doch nicht durch sie! Wie wollen sie mir helfen, wenn sie mich die gesamte Therapiestunde lang nach meinen Schlaf- und Essgewohnheiten abfragen? Das können sie von den Betreuern erfahren und nicht meine Therapiezeit damit verschleifen lassen!"

Überrascht von meinem emotionalen Ausbruch schloss ich für mehrere Sekunden meine Augen, um mich von dem offensichtlichen Schock zu erholen. War das hier ein Traum oder hatte ich wirklich meine belastenden Gedanken ausgesprochen, die mir schon seit meiner Ankunft im Kopf herumschwirrten? Könnte ich jetzt einfach in meinem quietschenden Stationsbett aufwachen und erleichtert herausfinden, dass das hier nur ein Traum war?

Zögernd öffnete ich wieder meine Augen, erst das rechte, dann das linke. Beide waren zu meiner Überraschung von Tränenflüssigkeit verklebt, wodurch mir das klare Erkennen meiner Umgebung schwerfiel und meine Sicht sich nur langsam wieder klärte.

Wie würde Frau Hendel reagieren? Käme ich in den Time-Out Raum?

Doch was ich vor mir sah, nahm mir den Atem.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt