Erst Ende August ließ die Hitzewelle, die mich bis dahin an der kurzen Leine gehalten hatte, endlich nach. Mittlerweile waren bereits ungefähr drei Wochen seit Evelyns Unfall vergangen, doch mir steckte es noch immer tief in den Knochen. Zwar hatten sich meine Schuldgefühle nach Evelyns Danksagung deutlich verringert, aber die Bilder dieses Tages hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt wie ein Tatort. Das Blut auf den Fließen, der Wand und am Waschbecken verfolgte mich in der Nacht mit den restlichen Schrecken, die ich zuvor sowieso hatte bekämpfen müssen. Ihr Anblick, wie sie zitternd am Boden gekauert hatte, wollte mich einfach nicht loslassen, doch mit jedem Tag gelang es mir besser, die Erinnerungen an das Geschehene zu verdrängen und mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Es war ein steiniger Weg, doch ich beschritt ihn.
Evelyn und ich verbrachten zudem mehr Zeit zusammen, saßen zusammen im Innenhof und freundeten uns miteinander an. Diese fragile Freundschaft war anders als solche, die ich bereits kannte, denn wir hatten uns an unseren jeweiligen Tiefpunkten kennengelernt und mussten uns erst langsam zu den schönen Momenten hocharbeiten. Unsere Tage wurden eingenommen von Therapien, Arztbesuchen und Kontrollen, doch immer wieder fanden wir die Zeit, um uns in unser schattiges Plätzchen im Innenhof zurückzuziehen und die dortige Stille zu genießen. Wir redeten nicht viel und wussten dennoch so einiges voneinander, denn Worte waren nicht nötig, um der anderen zu beschreiben, was wir fühlten.
"Ich glaube, wir sollten wieder reingehen."
Ein weiterer solcher Vormittag fand sein Ende und wir beendeten unsere Stille, um pünktlich zur Mittagsstunde in unseren Zimmern zu sein. Dann genossen die Betreuer eine ganze Stunde lang ihre Pause und uns war es verboten, aus unseren Stationszimmern zu kommen, um ihnen Ruhe zu gewährleisten. Herr Perkins und Frau Foxworth kamen gerade an, um die erste Schicht abzulösen, als wir den Gruppenraum betraten, und mir kroch bereits ein unwohles Gefühl in die Magengegend. Genau mit diesen Betreuern kam ich nur schwer zurecht, doch normalerweise wurde ihre Persönlichkeit durch das Verhalten des anderen Betreuers ausgeglichen. Das würde heute wohl nicht der Fall sein, denn beide zusammen hatten nun die Kontrolle. Um mir diese Vorschau auf den kommenden Nachmittag nicht länger ausmalen zu müssen, begab ich mich nach einer kurzen Verabschiedung von Evelyn schnellstmöglich in mein Zimmer, in dem Sam schon auf mich zu warten schien.
"Na du? Warst du wieder mit Evy draußen?"
Einzelne Strähnen ihrer Kurzhaarfrisur hingen ihr kreuz und quer im nassen Gesicht, denn sie war gerade erst mit anderen Patienten von de Schwimm-AG zurückgekehrt, die hier angeboten wurde. Mir hatte sie mal erzählt, dass es sie entspannte, einfach nur im Wasser umherzugleiten, doch ich konnte dem Ganzen einfach nichts abgewinnen und blieb lieber zu Hause. Genauso Evelyn, die sich jedoch eher wegen ihrer etwas pummligeren Figur schämte und sich nicht in einem Badeanzug zeigen wollte.
"Ja, war ich. Wie war die Schwimm-AG?"
Bei der Erwähnung ihres Hobbys leuchten Sams Augen auf und beginnen regelreicht zu strahlen.
"Es war richtig toll! Heute war sogar der 10-Meter-Turm freigegeben und wir durften runterspringen. Echt geil!"
Über ihre Ausdrucksweise musste ich wie immer lächeln und setzte mich auf mein Bett, während Sam sich umzog und ihrer Schwimmsachen entledigte. In den vergangenen Tagen hatten wir weniger Zeit als sonst miteinander verbracht, da ich mich nun auch mit Evelyn traf. Ich hatte keine Ahnung, wie Menschen mit mehr als zwei Freunden das schaffen konnten, denn ich war jetzt schon maßlos überfordert und fühlte mich schlecht, da ich Sam vernachlässigte, obwohl ich mir alle Mühe gab, um ihr auch die Aufmerksamkeit zu geben, die sie verdiente.
"Was is' eigentlich mit Evelyn? Sie wirkt in den letzten Wochen so komisch?"
Mein Herz gefror. Was wusste Sam? Wie viel konnte ich ihr erzählen?
"Ach, ihr geht es einfach nicht so gut, weißt du? Sie ist ein wenig instabil und bräuchte eigentlich mehr Therapie, bekommt sie aber nicht", versuchte ich mich aus der Situation zu retten, doch Sams kritischer Blick verriet mir, dass sie mir die Geschichte nicht komplett abkaufte.
Trotzdem, und dafür liebte ich sie umso mehr, hakte Sam nicht weiter nach und ließ mir diesen Freiraum, da sie merkte, dass ich mich bei diesem Thema nicht wohlfühlte. Auf einmal jedoch schien es, als wolle sie mit mir über etwas reden, traue sich nur nicht. Ihre gesamte Haltung verspannte sich und sie wich meinen Blicken geschickt aus. Hatte ich etwas Falsches gesagt oder getan, was sie verletzt haben könnte? Fiebrig überlegte ich nach einer Antwort, doch Sam nahm mir diese Last ab.
"Mir geht's die letzten Tage auch immer schlechter. Weiß nich', was da mit mir los ist, aber ich krieg's einfach nich' gebacken, mich zusammenzureißen", brach schließlich aus ihr hervor. "Ich krieg' immer wieder diese dummen Anfälle und sie werden nur noch stärker. Beschissene Epilepsie."
Meine Gesichtszüge entglitten mir, während ich mich verzweifelt zu erinnern versuchte, wann ich das letzte Mal einen Anfall von Sam miterlebt hatte. War ich wirklich so unaufmerksam und beschäftigt mit meiner neuen Bekanntschaft gewesen, dass mir diese Wichtigkeit nicht aufgefallen war? Beschämt sank ich in mich zusammen und nun war ich es, die dem Augenkontakt mit Sam auswich. Ich war in den letzten Wochen eine grauenhafte Freundin für sie gewesen, das wurde mir nun umso mehr bewusst.
"Hey, mach du dir bloß keine Vorwürfe, Letty. Is' ja nich' deine Schuld, verstehste? Ehrlich, ich nehm's dir nich' übel, eher im Gegenteil! Ich freu mich, dass du dich auch mit Evelyn versteht, das is' mein voller Ernst! Die zusätzliche Gesellschaft tut dir gut, ich seh' das. Fühl dich nicht schuldig für meine Probleme, klar?"
Stumm nickte ich und blinzelte die Tränen aus meinen Augenwinkeln.
"Aber können dir die Therapeuten nicht damit helfen, Sam? Da muss es doch irgendein Medikament oder eine Methode geben, um das aufzuhalten?"
Sam schüttelte nur frustriert den Kopf und rümpfte die Nase.
"Die labern nur den üblichen Mist, wirklich helfen tut da nix. Ist zwar scheisse, aber ich werd's schon überleben, schätze ich", lachte sie leise vor sich hin und begann mit ihren Hausaufgaben für die Klinikschule. "Sag mal, wie gehen diese Vektorfunktionen noch mal? Ich check' das alles irgendwie nich'."
Froh darüber, endlich wieder Zeit mit Sam verbringen und ihr gleichzeitig noch helfen zu können, schob ich meinen Schreibtischstuhl neben sie und setzte mich.
"Sam?"
"Ja, Letty?"
"Wollen wir heute zusammen nach draußen gehen? Ich fände es schön."
Endlich bekam ich wieder das berühmte Sam-Grinsen zu sehen.
"Ich auch."
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Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓
General Fiction••• THE WATTYS 2018 GEWINNER IN "THE CONTEMPORARIES" ••• TEIL 1 DER BLUMENSTRAUß-TETRALOGIE »Schwere Depressionen, Zwangsneurose, starke Angststörungen und psychotische Symptome.« Das ist die Diagnose, die Scarletts Leben verändert. Als ihr offenbar...