Kapitel 40

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Sobald sie mich erblickte, erhob sich meine Mutter und glättete automatisch die minimalen Falten, die sich bei dieser Bewegung im seidenen Stoff ihres edel glänzenden Hosenanzugs gebildet hatten. Diese kleinen Ticks hatte sie schon, seit ich mich zurückerinnern konnte. Jedes Mal, bevor wir das Haus verließen, überprüfte sie jedes Fenster einzeln, schaltete das Licht ein, nur um es Sekunden später wieder erlöschen zu lassen und überprüfte alle Hebel und Knöpfe in der Küche und sonstiger Elektronikgegenstände, bis sie sich vollkommen sicher sein konnte, dass in unserer Abwesenheit nichts Unvorhersehbares geschah.

Doch unter ihrem wie immer penibelst gepflegten Äußeren erkannte ich schnell die feinen, roten Adern, die sich durch die Lederhaut ihrer Augen zogen und ihr somit ein leicht kränkliches Aussehen verliehen. Ihr kompletter Augenbereich wirkte aufgedunsen, als hätte sie vor meinem Eintreten noch geweint und sich beim Anblick ihrer kranken Tochter schnell die Tränen aus dem Gesicht gewischt.

Ich konnte es ihr nicht verübeln; an ihrer Stelle hätte ich bei dem Gedanken an meine misslungene Tochter ebenfalls in einen Heulkrampf ausbrechen können.

Mein Vater hingegen war die Ruhe selbst; geraden Rückens trat er als erster der Beteiligten vor, um die unangenehme Stille, die sich mittlerweile im Raum ausgebreitet hatte, zu unterbrechen. Mit dem für ihn typischen kaufmännischen Handschlag grüßte er mich, als wäre ich einer seiner Geschäftspartner, und hielt sich fortan im Hintergrund, doch dieses Verhalten war mir keinesfalls neu und überraschte mich daher auch nicht.

Das hatte ich schon immer an ihm verabscheut. Bei jedem Streit war er still gewesen und hatte meiner Mutter nur immer wieder durch aufmunterndes Nicken oder ein kräftiges 'Ja, genau' beigestanden, während es ihm unmöglich schien, auch nur einmal meine Seite zu betrachten. Doch das gehörte sich nicht für einen gutgesitteten Geschäftsmann, der auf Traditionen und das angebliche Wohl der Familie legte, die er für die Außenwelt malte.

Seine wahre, reale Familie?

Mit Problemen und täglichen Auseinandersetzungen?

Die waren ihm fremd.

Kein Wunder, dass er seine Zeit tagtäglich von früh bis spät in seiner Firma verbrachte, um spätabends in einen ruhigen Haushalt zurückzukehren, in dem er sich um nichts mehr kümmern musste.

Ich hasste sie alle beide.

Erst in diesem Moment wurde mir klar, was ich tatsächlich für sie empfand. Abneigung, Grauen, Abscheu, Schrecken, Feindseligkeit – solche Wörter waren in Gedanken schon des Öfteren gefallen, sobald ich an sie dachte, doch den wahrhaftigen und ehrlichen Hass, den ich in diesem Moment auf sie verspürte und am liebsten mit all meinen verbliebenen Kräften auf sie gehetzt hätte, kannte ich bisher nicht.

Sie hatten Kummer.

Sie litten unter der Situation.

Sie fürchteten sich vor der Zukunft.

Dessen war ich mir bewusst, doch ich ließ mich selbst nicht vergessen, wie es hierzu kommen konnte. Eine Komposition aus mehreren Bestandteilen, von denen ein besonders schwerwiegender meine kaputte Familie darstellte. Wieder richtete ich meinen Blick auf die Frau, die sich mir gegenüberbefand und momentan abfällig das Interieur des Büros begutachtete, um ihrer Tochter nicht in die Augen zu sehen.

Ich wollte es aber.

Ich wollte, dass sie mich ansah.

Ich wollte, dass sie den Schmerz in meinen Augen erkannte.

Ich wollte, dass sie sich ihrer Mitschuld an alledem bewusst wurde.

Ich wollte, dass sie den Mumm aufbrachte, sich ihrer Bringschuld zu beugen und mir nur in die Augen sah.

Endlich. Ihre zittrigen Augenlider hoben sich und sie betrachtete mich vorsichtig. Dabei entging mir nicht, wie sie nebenbei ein missbilligendes Urteil über die Wahl meiner Bekleidung traf, jedoch kümmerte mich diese Tatsache nicht mehr. All ihre Oberflächlichkeit war mir egal, als ich mit wackligen Beinen mitten im Raum stand und meiner leiblichen Mutter ins Gesicht schaute.

Ich merkte, wie schwer ihr das Halten dieses Augenkontakts fiel, doch ich ließ nicht nach und begann, langsam auf sie zuzugehen, nachdem einige ruhige Sekunden verstrichen waren.

Hatte sie Schuldgefühle?

In diesem Moment?

Gedanklich musste ich den Kopf schütteln.

Ärgerte sie sich nur über meine ausgetrockneten Lippen?

Meine blasse und kränkliche Haut?

Meine ausgemergelten Gesichtszüge?

Meine violett gefärbten Augenringe?

Meine-

Stopp.

Ohne ein weiteres Wort trat ich etwas schneller näher, bis mein Gesicht nur noch Millimeter von ihrem entfernt war und ich ihren gleichmäßigen Atem auf meiner Haut spüren konnte.

Sie schien nicht einmal beunruhigt. Wie immer konnte die perfekte Hausfrau nichts aus der Fassung bringen.

Ihre Augen, die ebenso stechend hellgrau, fast schon silbern waren wie meine, starrten mittlerweile ebenso bissig zurück. Schon immer hatte sie Herausforderungen geliebt, die sie glaubte, gewinnen zu können. Doch das musste nun sein Ende finden.

Zitternd holte ich Luft, wobei meine Atemwege nur zögernd ihre Pforten öffneten, um mir eine sichere Stimme zu verleihen, bevor ich endlich zum Sprechen ansetzte.

"Du hast ihn mich misshandeln lassen und wusstest es die ganze Zeit."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt