Kapitel 88

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Das Laken war zu dünn.

In meinen schlimmsten Träumen hatte ich mir die erste Nacht auf Neptun genauso ausgemalt: Ein kalter, unfreundlicher Raum, dunkle Gedanken, die den Schlaf verjagten, und zwei Mitbewohnerinnen, von denen eine stumm und scheinbar teilnahmslos an die Decke starrte und die andere einen hysterischen Heulkrampf nach dem anderen hinter sich brachte. Es fehlten nur noch die klischeehaften Krankenhauskittel und meine Vision wäre vollkommen.

Nach den schönen, fast schon entspannenden Stunden, die ich mit Alvin verbracht hatte, folgte der Rückschlag: die Routine vor dem Zubettgehen. Nach einem mehr schlechten als rechten Abendessen, bei dem ich außer einer trockenen Scheibe Brot nichts herunterwürgen konnte, wurden die Duschzeiten vorgetragen. Ich hatte den Platz vor Jennifer ergattert, die als letzte folgen sollte.

Zu meinem Glück war Esther für die Duschkontrolle zugeteilt, und doch breitete sich schamvolle Gänsehaut über meinem Körper aus, als ich mich vor ihr entkleiden und in den Duschbereich treten musste. Kein Vorhang, nichts, dass mich vor ihr abschirmen könnte, und so war mir nichts anderes übrig geblieben, als in der Gegenwart einer mir fremden Person zu duschen. Danach hatte ich mich nicht sauber, sondern noch schmachvoller als zuvor gefühlt.

Esther kannte nun die Narben, die ich an meinem Körper trug, und wusste somit mehr über mich, als sie sich bewusst war. Sie hatte meine käseweißen Beine gesehen und die verschrammten Knie, die durch einen schweren Fahrradunfall in meinem elften Lebensjahr für immer gezeichnet sein würden. Meine mittlerweile verblasste Operationsnarbe auf der Höhe des Blinddarms, der mir mit sechs Jahren entfernt werden musste. Doch Esther konnte auch die violett glänzenden Narben sehen, wegen denen ich hier sein musste. In der Station für Notfälle.

Jennifers Schniefen und Seufzen durchschnitt die nächtliche Stille, die sich über die Klinik gelegt hatte. Unser Zimmer lag im Dunkeln, doch durch die drei schmalen Fenster an der Kopfseite meines Bettes schienen immer wieder kleine Funken Licht. Wenn ich mich nach links drehte, bot sich mir eine perfekte Aussicht auf Emily, die starr auf dem Rücken lag und ihre Hände auf ihrem Unterbauch verschränkte. Sie wirkte gefasst, beinahe in sich ruhend, und doch verriet das Zucken ihrer Lider und der Tränenfilm über ihren hellen Augen ihren tatsächlichen Zustand.

Dennoch bemühte sie sich, die Fassade aufrecht zu erhalten. Ihre hellblonden Haare, die im schwachen Licht geradezu weißlich wirkten, hatte sie zu einem strengen Knoten gebunden, der sie älter wirken ließ, als sie eigentlich war. Ich schätze sie auf dreizehn oder vierzehn Jahre, denn auch ihre beherrschte Erscheinung konnte nicht die kindlichen Züge verstecken, die noch in ihrem Gesicht zu finden waren. In gewisser Weise erinnerte sie mich an mich selbst in meinen schlimmsten und dunkelsten Zeiten, in denen ich dennoch bemüht war, die Fassade einer gesunden jungen Frau aufrechtzuerhalten.

Doch das war mir nicht gelungen. Genauso wenig wie Jennifer es in just diesem Moment schaffte, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. Wenn sie ihren Kopf nicht unter der Decke versteckte und leise vor sich hin weinte, sprachen ihre verweinten Augen und die kahlen Stellen an ihrem Kopf, an denen sie sich ihre Haare ausgerissen hatte, Bände. Zwar befand ihr Bett sich am weitesten von den Fenstern entfernt, doch auch ihre Ecke des Zimmers konnte das Mondlicht vereinzelt erreichen. Ihre ebenholzfarbene Haut war weniger verräterisch als meine Blässe, doch auch bei ihr konnte ich das mir bekannte Schimmern erkennen, die sich in ihrem Dekolleté häuften. Ihr violettes Top offenbarte wulstige Narben von tiefen Schnittwunden.

Sowohl Emily als auch Jennifer waren Spiegelbilder meines ehemaligen Zustandes, wie ich nach langen Stunden der stillen Überlegung feststellen musste. Während Emily die scheiternde Fassade verkörperte, stellte Jennifer mich im heimischen Badezimmer dar, wie ich in der leeren Badewanne gehockt und einen rostigen Nagel in meine Unterarme gerammt hatte. Immer und immer und immer wieder.

Ich dachte über mich in meinen schlimmsten Zeiten nach – müsste das nicht heißen, dass ich es bereits aus diesen Abgründen geschafft hatte, oder war das nur eine weitere grausame Illusion, die meine Erkrankungen mich glauben ließen? Gehörte ich überhaupt hierhin? War mein Platz nicht eher auf Jupiter, wo Herr Olsen, Evelyn und Arthur auf mich warteten?

Ein Geräusch zu meiner Linken unterbrach mich. Emily hatte sich aufgesetzt und war gerade dabei, sich Wasser in einen Plastikbecher einzufüllen. Erst jetzt fielen mir die dunklen Augenringe auf, die ihrem Gesicht etwas Krankes verliehen. Ging es ihr gut?

"Hallo", flüsterte ich vorsichtig und setzte mich ebenfalls auf meine Bettkante. Mein rechter Fuß war eingeschlafen und ich begann möglichst unauffällig, ihn im Kreis rotieren zu lassen und die Zehen zu bewegen. "Wir wurden uns nie wirklich offiziell vorgestellt. Ich bin Scarlett."

Während ich auf ihre Antwort wartete, drang ein dumpfes Weinen unter Jennifers Decke hervor. Nicht die besten Voraussetzungen, um eine neue Bekanntschaft zu schließen.

"Hallo."

Emily sah mich an und schien bemüht zu sein, meine Intentionen zu erahnen. Doch wie sollte man jemandem übermitteln, dass man einfach nur reden wollte?

"Ich will einfach nur reden." Im selben Moment, als die Worte meine Lippen verließen, hätte ich mich dafür schlagen können. Aufdringlicher hätte ich wohl kaum auf sie zugehen können. Meine Güte, war ich eine unangenehme Person. "Bitte entschuldige, ich bin nicht wirklich geübt im sozialen Kontakt–"

Und schon machte ich alles nur noch schlimmer. Ich konnte regelrecht spüren, wie meine Kehle trocken wurde und sich Frusttränen in meinen Augen sammelten.

Ausatmen.

Halten.

Einatmen.

Halten.

"Schon okay. Ich auch nicht."

Das war alles, was Emily herausbrachte, bevor sie sich erneut auf den Rücken legte und gegen die Decke starrte. Ihre Mimik verriet nichts über ihr Inneres, ließ nicht erahnen, was sie von mir hielt. Sollte ich nun weiterreden oder war das Gespräch in ihren Augen beendet?

"Also, sollen wir ... uns unterhalten?", entgegnete ich zögernd und begann, an meinen Narben zu kratzen. Es hatte sich zu einer nervösen Angewohnheit von mir entwickelt, als sie noch nicht vollkommen verheilt waren und ich Blut sehen konnte, sobald ich es nur anfasste. Mittlerweile bescherte es mir nichts außer dem bleibenden Juckreiz, der zwar nervig war, aber nur einen kleinen Preis bedeutete für den kleinen Moment der Erleichterung.

Ohne mein Wissen hatte Emily mich dabei beobachtet und schien nicht angeekelt, sondern in gewissem Maße fasziniert. Ihre Augen – sie waren blau, das hatte ich mittlerweile ausmachen können, jedoch so hell, dass die Farbe kaum zu erkennen war – wanderten über meine Arme und begutachteten, was ein rostiger Nagel, diverse Schnittwunden und eine wiederverwendete Rasierklinge hinterlassen hatten.

"In Ordnung." Ihre Stimme war heller als zuvor. Sie schien sich ein wenig entspannt zu haben, lächelte sogar sanft. "Dann erzähl mir deine Geschichte, Scarlett."

Von der anderen Seite des Raums war ein tiefes Schluchzen zu hören.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt