Kapitel 48

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Die Tage verstrichen und es wollte mir schlichtweg nicht gelingen, neue soziale Kontakte aufzubauen. Den ersten Schritt zu wagen bereitete mir unheimliche Panikanfälle, die ich nur durch minutenlange Atemübungen wieder beheben konnte. Sam hingegen hatte sich in den vergangenen Wochen schnell mit jedem anfreunden können und unternahm auch des Öfteren etwas mit Fay, Evelyn oder Caroline, die sich bestens mit ihr verstanden.

Warum konnte ich nicht etwas mehr wie Sam sein?

Warum konnte ich nicht etwas extrovertierter auftreten?

Warum konnte ich nicht so ein ansteckendes Lachen wie sie haben?

So sehr es mir auch widerstrebte, mich nach Charakterzügen anderer zu sehnen, konnte ich die stichelnden Gedanken, die sich wie Messer in mein Herz versenkten, nach einiger Zeit nicht mehr unterdrücken. Ich fühlte mich, als hätte jemand eine Eisschaufel genommen und meine Magenhöhle ausgelöffelt.

"Na du, alles gut bei dir?", zog mich Sam mit einem lauten Ruf aus meinen Gedankenströmen, indem sie in für sie üblicher lautstarker Manier unser gemeinsames Zimmer betrat.

Da sie sich an den wöchentlich stattfindenden Schwimmausflügen, die in einer klinikexternen Schwimmhalle stattfanden, beteiligte, trieften ihre kurzen Haare noch immer von dem mit Chlor angereicherten Wasser und hinterließen auf dem glatten Fußboden kleine Sprenkel, die in der untergehenden Abendsonne einen orangenen Schein annahmen.

"Es ist okay."

Bei diesen Worten unterbrach Sam sofort ihre Aufräumarbeiten und drehte sich mit den Händen in den Hüften zu mir um, während ihre Augen mich vorwurfsvoll anstarrten.

"Also geht's dir beschissen."

"Nicht wirkli-"

"Doch, ich hab' Recht. Du siehst übrigens auch mal wieder aus, als hätte man dich durch 'nen Fleischwolf gedreht. Was'n los? Erzähl Tante Sammy deine Probleme."

Mit diesen Worten näherte sie sich langsam und setzte sich auf meine Bettkante, nachdem sie sich zuvor ein trockenes Handtuch untergelegt hatte. Auch wenn ich ihre Fürsorge in diesem Moment zu schätzen wusste, konnte ich die passenden Worte, die meine Gedanken zusammengefasst hätten, einfach nicht in meinem Kopf zurechtlegen, weshalb wir uns einige Minuten lang anschweigen. Nur das leise Tropfen der Wassersprenkel, die rund um Sam den Boden benetzten, unterbrach hin und wieder die Stille.

"Du willst also nich' reden, verstehe", stellte Sam achselzuckend fest und wandte sich dem Fenster zu. "Dann müssen wir eben nich' reden, aber ich lass dich jetzt nicht alleine; sonst machst du noch irgendeinen Blödsinn. Ich kenn' dich doch, Letty."

"Nein", flüsterte ich eher zu mir als zu ihr, doch sie hörte mich dennoch und drehte ihren Kopf schlagartig zu mir.

"Wie is' das denn jetzt gemeint?"

Ihre Worte klangen noch neutral, doch in ihren Gesichtszügen erkannte ich etwas, was sie zuvor noch nie gezeigt hatte; Verletzlichkeit. Ihre sonst so offenen Augenbrauen zogen sich mit jeder Sekunde mehr zusammen und sanken tiefer, bis ihre feuchten Augenlider beinahe von ihnen versteckt wurden. Ihre Lippen hatten sich in vollkommener Sprachlosigkeit leicht geöffnet und bildeten nun ein kleines O, wobei mir ein leichtes Zittern nicht entging. Hatte ich ihr mit meinem belanglosen Kommentar wehgetan? Stand sie etwa wegen mir kurz vor einem erneuten Epilepsieanfall?

"Es ist nicht, also", stammelte ich mir zurecht, doch Sam stand ohne ein weiteres Wort von meinem Bett auf und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Auspacken ihrer Turntasche, während ich verzweifelt nach Worten rang, die sie nicht noch weiter verletzen würden.

Doch wie sollte ich das tun?

In den nächsten Minuten sagte erneut keiner von uns ein einziges Wort, doch es war kein angenehmes Schweigen wie wenige Minuten zuvor. Immer wieder setzte ich zu einer Entschuldigung an, doch ich ahnte bereits, dass diese Versuche nur in alteingesessenen Floskeln enden würden.

Auf einmal hielt Sam inne und sah von ihrem Kleidungsberg auf, wodurch mich ihr niedergeschlagenes Erscheinungsbild erneut mitten in die Eingeweide traf. In mir stieg eine Übelkeit hoch, die ich jedoch verzweifelt zu unterdrücken versuchte, um die Situation nicht noch unangenehmer als gerade zu gestalten, da Sam mich wortlos ansah und abzuwägen schien, ob sie etwas sagen sollte oder nicht. Schließlich ergriff ich endlich das Wort, um das unendliche Schweigen zu unterbrechen.

"Ich werde mich nicht entschuldigen, Sam", allein dieser ruppige Anfang schien sie aus einer Starre zu reißen und sie sah mich nun vollkommen verwirrt an, doch ich redete weiter. "Das heißt jedoch nicht, dass es mir nicht Leid tut. Es ist sicherlich nicht immer einfach mit mir als Mitbewohnerin, doch ich bin unheimlich froh, dich zu haben. Wer weiß, ob ich ohne dich überhaupt noch hier sein würde. Das eben gerade war doch nicht gegen dich gemeint! Es ist nur so, dass", an dieser Stelle machte ich eine kurze Pause, um nach den richtigen Worten zu suchen und um Luft zu schnappen, "niemand mich kennt. Nicht einmal ich selbst. Das macht mir unheimliche Angst, aber mir fällt es selbst täglich schwer, mich auf mich einzulassen und mehr von mir und meiner fehlgeschlagenen Psyche in Erfahrung zu bringen. Verstehst du? Bitte verstehe, bitte. Sam, ich brauche dich. Bitte sei nicht wütend auf mich, sonst schaffe ich das alles hier nicht. Lass mich nicht alleine."

Mittlerweile hatte sich meine Mitbewohnerin langsam auf ihrem Schreibtischstuhl niedergelassen und mir stillschweigend zugehört, während sich ihre verhärtete Gesichtsmiene langsam wieder entknotete. Doch ich erhielt auch nach einigen Momenten des ungeduldigen Wartens keine verbale Antwort, denn nach kurzer Überlegung sprang sie auf und zog mich in ihre Arme.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt