Kapitel 50

3.1K 413 137
                                    

Blut.

Überall befand sich Blut.

Von der Armatur des Waschbeckens bis zum weißen Fließenboden waren rote Flecken und Spritzer zu sehen, die ihre Quelle in einer zusammengekauerten Gestalt in der dunkelsten Ecke des kalten Raums fanden. Um das zitternde Mädchen hatte sich mittlerweile eine kleine, rote Lache gesammelt, die zumindest in meinen Gedanken immer weiter wuchs. Ich musste raus hier, doch ich konnte sie nicht alleine lassen.

Nicht so.

Langsam trat ich einen Schritt vor, wobei meine Socke von einem besonders großen Tropfen Blut verfärbt wurde und ich die Feuchtigkeit an meiner Fußsohle spüren konnte. Die nächsten meiner vorsichtigen Schritte hinterließen noch mehr rote Flecken auf dem weißen Untergrund, doch das kümmerte mich in dem Moment nicht; meine gesamte Konzentration war auf das weinende Mädchen gerichtet, das sich verzweifelt die Handgelenke zudrückte und mit Teilen ihrer Kleidung abgebunden hatte.Sie wiegte sich fast schon manisch hin und her, als ob es einen Albtraum abzuschütteln versuchte. In diesem Moment wurde mir klar, wen ich vor mir hatte.

"Evelyn?"

Nur ein kurzanhaltendes Vibrieren ihres mir zugewandten Hinterkopfes verriet mir, dass ich Recht hatte. Was sollte ich nun tun?

Verzweifelt schloss ich für einige Momente die Augen und dachte an Tulpen. Wunderschöne Tulpen. Es gab sie in lila, weiß, rot und orange. Sie dufteten gut. Besonders bekannt sind Tulpen aus Holland.

Tulpen.

Mit klarerem Blick öffnete ich meine Augen erneut und konnte meine Umgebung aus einer etwas distanzierteren Position betrachten. Die weißen Fließen, die blutverschmierte Toilettenbrille, in deren Inneren sich Erbrochenes und Galle gesammelt hatte, ein kleines Rasiermesser und Evelyn, die vollkommen aufgelöst in der Ecke kauerte.

Ich musste etwas unternehmen, und zwar jetzt.

"In Ordnung, Evelyn, bleib ganz ruhig", begann ich meine erbärmlichen Beruhigungsversuche und kam ihr noch etwas näher, bis ich den eisenhaltigen Geruch ihres Blutes viel zu deutlich wahrnehmen konnte. "Blutest du immer noch? Wo hast du dich geschnitten? Zeig mal her."

Mit beinahe fachmännischer Akribität begutachtete ich ihre kraftlosen Arme, die sie mir widerstandslos offenbarte. Obwohl ihr Kopf mir immer noch abgewandt war, spürte ich Evelyns Scham deutlich, weshalb ich es vermied, sie unnötig anzustrengen. Nachdem ich beide Arme gründlich untersucht hatte, legte ich sie vorsichtig in ihren Schoß und rappelte mich hastig auf.

"Ich komme gleich wieder, keine Sorge. Gleich bin ich wieder da, Evelyn", murmelte ich ihr noch schnell zu, während ich die Rasierklinge an mich nahm, und entfernte mich aus dem grauenerfüllten Toilettenraum.

Was sollte ich nun tun? Für einen Moment harrte ich vollkommen handlungsunfähig in einer Starre aus, bis mir ein Bild vor Augen kam; Herr Olsen, der Verbandsmaterialien für einen Patienten aus einem Schrank im Betreuerbüro nahm. Doch sobald ich vor der verschlossen Tür stand, wurde ich mir des sich vor mir auftuenden Hindernisses schmerzlich bewusst. Verblutete Evelyn, während ich mich hier um Schlösser und Schlüssel sorgte?

Die Tür schien nicht besonders stabil zu sein, doch fürs grobe Aufbrechen war ich deutlich zu schwach. Was dann? Auf einmal fiel mein Blick auf die Pinnwand, die direkt neben der Tür angebracht worden war. Behutsam nahm ich die Platte von der Wand und suchte die Rückseite nach Drähten ab, bis ich schließlich fündig wurde.

Ich hatte noch nie einen Dietrich verwendet, geschweige denn selbst hergestellt, weshalb ich zuerst ratlos das Drahtstück vor mir betrachtete, doch schließlich zwang ich mich zu handeln und begann, den Draht ziellos zu einem stabilen, schlüsselförmigen Klumpen zu formen. Während ich dastand und mit dem Ersatzschlüssel hantierte, zuckte mein Blick immer wieder zurück zum Betreuerbüro der Nachbarstation, in dem sich die Betreuer noch immer köstlich zu amüsieren schienen. Von der Seite drohte mir also keine Gefahr, doch meine Gedanken fanden sich immer wieder im Toilettenraum, wo sich Evelyn momentan vermutlich nur weiterhin in der Ecke verkroch und die Blutung zu stoppen versuchte.

Endlich schien mir der Dietrich gut genug für einen ersten Versuch zu sein und ich versuchte, ihn so effizient wie möglich in das Schlüsselloch zu drücken. Es klappte.

Mein Plan hatte tatsächlich funktioniert.

Berauscht von der plötzlichen Adrenalinzufuhr drückte ich die Tür vorsichtig auf und sah mich im Büro um. Wo war nochmal der Verbandskasten gewesen, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte?

Hastig durchstöberte ich die verschiedenen Schubladen, bis mir der unhandliche, rote Koffer endlich ins Auge sprang. Schnell schnappte ich ihn mir und rannte stolpernd zurück zu den Toilettenräumen, um keine unnötige Zeit zu verschwenden, die Evelyn vielleicht das Leben kosten könnten. Mein Herz pochte mir bis zum Hals und meine Innereien fuhren Achterbahn, während ich mich neben Evelyn niederließ und ihr Gesicht zu mir drehte. Sie war kreidebleich und hatte mittlerweile einen fast gräulichen Farbton angenommen.

"So, hier bin ich wieder. Ich habe Verbandszeug dabei, siehst du?", sprach ich sie mit möglichst ruhigem Ton, wobei in meinem Inneren ein Tornado tobte. "Ich habe etwas Erfahrung im Verbinden von Wunden, weil ich in der siebten Klasse zur Schulsanitäterin ausgebildet wurde, weißt du? Das hier kriege ich locker hin."

Diese selbstsicheren Worte verschleierten nur, was wirklich in mir vorging. Meine Beine fühlten sich taub an, während ich neben Evelyn kniete und die Wunde vorsichtig abtupfte, während immer mehr Blut aus der Öffnung trat.

"I- Ich-", begann sie hicksend, doch ich legte ihr besänftigend die Hand auf den Oberarm.

"Ist schon gut, du musst nichts erklären. Alles in Ordnung, jetzt verbinden wir erst mal die Wunde, in Ordnung? Dann können wir weitersehen."

Doch so einfach sollte es nicht werden, denn das Blut wurde immer mehr.

"Weißt du was? Ich glaube, ich nähe das hier lieber zu", murmele ich ihr mit gesenktem Blick zu, während ich mit merklich zitternden Händen nach einem Faden und einer Nadel in dem Chaos des Unfallkoffers wühlte.

Auf so etwas war ich in der Ausbildung nie vorbereitet worden. Kleine Wunden und Schnitte konnte ich desinfizieren und korrekt verbinden, aber ich hatte noch nie tiefgehende Verletzungen genäht. Um mir die Unsicherheit jedoch nicht anmerken zu lassen, lächelte ich Evelyn ermutigend an und fuhr mit dem Versorgen ihrer Wunden fort.

"Das könnte jetzt etwas wehtun", erklärte ich ihr, erinnere mich aber daran, dass Schmerzen momentan ihr kleinstes Problem waren.

Zuerst verschloss ich die Wunde amateurhaft von innen, bis ich mich um die oberflächliche Versorgung kümmerte. Dabei blendete ich das Blut und dessen Geruch nach einigen unangenehmen Sekunden vollkommen aus und konzentrierte mich nur auf die Aufgabe, die ich in diesem Moment so gut es ging zu erfüllen versuchte; Evelyn zu retten.

Diese lehnte sich nach einiger Zeit im Schmerzdelirium an die Wand und starrte mit leeren Augen an die Decke. Obwohl ihre Haut immer noch der Farbe alten Pergaments glich, schien sie mir etwas stabiler als zuvor.

"Siehst du? Du hast es geschafft, Evelyn", flüstere ich, nachdem ich den letzten Verband fixiert hatte.

Doch anstatt sich erleichtert über die überwundenen Schmerzen zu zeigen, begann sie noch mehr zu weinen und griff nach meiner Hand, wobei ich aufgrund ihrer noch geringen Körpertemperatur erschrak.

"Ich wollte das gar nicht. Ich wollte nicht sterben, Scarlett. Ich wollte nur bluten."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt