Kapitel 71

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In dieser Nacht schlief ich ungewohnt gut. Ich verbrachte zwar nicht viele Stunden unter den Schlafenden, doch ich fühlte mich einigermaßen erholt, was im Vergleich zu vorangegangenen Nächten eine absolute Erleichterung darstellte und mich bewusster in den Tag gehen ließ, der für mich bereits um fünf Uhr begonnen hatte. Seitdem war ich aufgestanden, hatte mich in meine übliche, weite Kleidung zurückgezogen und darauf gewartet, dass auch der Rest der Patienten auf meiner Station aufwachen würde. Denn so schneller ich mein Frühstück hinunterschlingen und die mir zugeschriebenen alltäglichen Aufgaben erledigen konnte, desto früher würde ich wieder nach draußen gehen können. In die Freiheit.

Die Woche fand ihr Ende und da sich am Sonntagmorgen nur sehr wenige der Patienten überhaupt in der Klinik befanden, weil sie als Belastungsprobe und zeitgleiche Belohnung bei ihren Familien schlafen durften und erst am Abend wieder zurückkehren mussten, wirkte die Station wie leergefegt, als ich schließlich um acht Uhr aus meinem Zimmer trat und direkt von der warmen Herbstsonne geblendet wurde, deren grelle Strahlen durch die Deckenfenster in den Gruppenraum flossen und ihn mit ihrem Licht erfüllten. Doch anstatt mich erneut in mein Zimmer zurückzuziehen, ging ich vorsichtig in den Essbereich.

Meine Befürchtung, Herr Perkins oder Frau Foxworth würden dort das Frühstück im kleineren Kreise vorbereiten, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht, denn Herr Olsen wippte scheinbar glücklich im Takt eines Radiohits, der im Hintergrund lief, hin und her, während er das Brot und Besteck auf dem weitläufigen Tisch ausbreitete.

"Guten Morgen, Scarlett!", rief er mir durch den Raum zu, woraufhin ich seinem Gruß eine kurze Erwiderung und ein herzliches Lächeln entgegnete.

Herr Olsen war vermutlich der beste Betreuer, den ich haben könnte. Umso glücklicher war ich darüber, dass er genau heute früh seine Schicht hatte, denn so würde ich vielleicht ein nicht ganz so einsames Dasein fristen müssen, bis ich mich am Nachmittag mit Flint treffen würde. Mit ihm. Unter der Eiche. Am See.

"Möchtest du etwas von meinem selbstgemachten Tee? Ich habe ihn gerade frisch aufgebrüht und bevor die anderen kommen und uns dabei erwischen, könntest du dir eine Tasse sichern. Es ist wirklich gut; viel besser als die Brühe, die euch hier als Tee vorgesetzt wird", rief er, während ich mir die Hände wusch und mich anschließend auf meinem gewohnten Platz niederließ.

"Wenn das so ist, nehme ich sehr gerne eine Tasse. Vielen Dank", murmelte ich und betrachtete das heiße Getränk, wie es aus Herr Olsens Teekanne in meinen Plastikbecher floss. Der aromatische Geruch stieg mir in ebendiesem Moment in die Nase und ich schloss genüsslich die Augen. So lange war es her gewesen, seit ich eine richtige Tasse Tee serviert bekommen hatte, weshalb ich diesen Augenblick umso mehr genießen wollte. Vorsichtig nippte ich an dem Rand meines Bechers und zuckte leicht zusammen, als der heiße Dampf zusammen mit dem vollmundigen Geschmack meine Nerven traf.

Es schmeckte so gut. So unglaublich gut.

"Ach, Scarlett, da gibt es noch eine Sache, die ich gerne mit dir besprechen würde", meinte Herr Olsen bemüht beiläufig und zog sich einen Stuhl herbei, um sich auf ihn zu setzten und mich mit bedeutungsschwangerem Blick anzusehen.

Augenblicklich erstarrten meine Geschmacksnerven und ich fühlte beinahe nichts mehr. Nur ein beständiger, piepsender Ton in meinem rechten Ohr, der mich fühlen ließ, als wäre ich unter Narkose oder tief unten in einem dunklen See.

"Worüber wollen Sie denn mit mir sprechen?"

Ich redete, doch es fühlte sich nicht so an. Eher schien jemand Fremdes Kontrolle über meinen Körper gewonnen zu haben und schien meine Stimmbänder als auch meinen Mund zu kontrollieren. Meine Stimme zitterte, das konnte ich wie aus weiter Entfernung hören, doch nicht nur das. In der Sekunde, als ich diese Worte aussprach, schien mein gesamter Mundbereich auszudörren und mein Rachen zu vertrocknen, was mich unruhig und voller Nervosität schlucken ließ.

"Frau Hendel hat mich gestern Abend kontaktiert, da sie Bescheid wusste, dass ich heute allein die Frühschicht führen würde, und bat mich, dir zu sagen, dass sie dich heute zu einem Therapiegespräch sehen möchte", beendete er seinen Satz, doch da er merkte, wie nervös ich war, versuchte er mich augenblicklich zu beruhigen. "Hör mal, Scarlett, es ist bestimmt nichts Schlimmes. Sie macht das öfter, dass sie einen ihrer Patienten zu sich holt, obwohl sie eigentlich keinen Termin vereinbart hatten. Das muss nicht gleich etwas Schlechtes bedeuten, mach dich da bitte nicht verrückt. Mir hat sie zwar nichts Genaueres gesagt, aber besonders angespannt wirkte sie während unseres Telefongespräches nicht. Also atme tief durch und versuche, den Vormittag zu genießen. Dein Termin ist um 12:30 Uhr, also genau eine halbe Stunde nach dem Mittagessen. Das müsste zu machen sein, nicht wahr? Vor allem wenn man bedenkt, wie wenig man das Klinikessen hier genießen kann. Das dauert sicherlich nicht allzu lange."

Seine Versuche, mich in dieser Schocksituation aufzuheitern, waren zwar lieb gemeint, schlugen jedoch überhaupt nicht an. Ich nahm nicht mehr wahr außer dem beständigen Piepsen auf meinem rechten Ohr und der Teetasse in meiner Hand, die mittlerweile nicht mehr angenehm warm, sondern brennend heiß schien. Doch ich nahm meine Finger nicht von ihr, als ich zu sprechen begann, sondern drückte sie beinahe zwanghaft noch enger um den glühenden Becher.

"Hat sie einen dieser Notfalltermine denn schon einmal auf einen Sonntag gelegt? Sie arbeitet heute doch eigentlich gar nicht in der Therapie."

Herr Olsens Blick sagte mir alles, auch wenn er es zu überdecken versuchte.

Was auch immer Frau Hendel mit mir zu besprechen hatte; es war dringend.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt