Am nächsten Tag blieb mein Zimmer lichtdurchflutet.
Am darauffolgenden Tag auch.
In dieser Zeit tat ich nichts Besonderes, und doch war es irgendwie besonders.
Ich stand morgens auf, sah mittags aus dem Fenster und las abends das Regelwerk der Klinik. Es waren keine aufregenden Tätigkeiten, bei denen jeder andere vermutlich schnell gelangweilt wäre, doch für mich war es ein großer Schritt.
Ich tat etwas. Irgendetwas.
Durch diese kleinen Ablenkungen schaffte ich es, meine Zweifel über den Aufenthalt an diesem Ort beiseite zu schieben und mich auf das Wesentlichste zu konzentrieren. Man hielt mich hier fest, ob ich es nun wollte oder nicht. Vielleicht könnte ich nach einigen Wochen eine fälschliche Besserung meiner Lage andeuten und sie würden mich nach Hause schicken?
Nein. Das durfte nicht passieren. Es hätte sich an meinem Zustand nichts geändert und ich würde noch immer wie ein lebloses Stück Fleisch vor mich hin vegetieren. Allein die Erinnerung an diese Zeit, die mir unglaublich entfernt vorkam, rief eine Gänsehaut hervor. Die Kälte und Angst umgaben mich ein weiteres Mal.
Nie wieder.
Das versprach ich mir. Entweder würde ich die Krankheiten erfolgreich bezwingen oder dem Ganzen ein Ende setzen, eine andere Option gab es für mich nicht. Nicht mehr.
Nach der Mittagsrunde im Gemeinschaftsraum zog ich mich wieder in mein Zimmer zurück, während die meisten meiner Mitbewohner nach draußen auf den Sportplatz gingen, um Fußball zu spielen oder einfach aus der Station zu kommen. Da für mich keine Termine anstanden, entschloss ich mich, wie beinahe jeden Tag nach draußen zu sehen und nicht wie zuvor an die nackte Wand.
Als ich jedoch nur einige Minuten vor dem Fenster verbracht hatte, wurde ich von einem lauten Klopfen aus meiner Ruhe gerissen. Woher kam das Geräusch? Nach einigen Sekunden der Stille ertönte vom Gemeinschaftsraum eine Stimme.
"Scarlett, biste im Zimmer? Ich wollt' mal reinschauen und gucken, wie's dir geht."
Es war Sam.
Überrascht und mit noch klopfendem Herzen stand ich langsam auf und ging mit überlegten Schritten zur Tür. Wenn ich sie öffnete, würde ich reden müssen. Was, wenn ich komisch auf sie wirkte? Oder ich die richtigen Worte nicht fand und mich in meinen Gedanken verlor?
"Keine Sorge, ich habe nich' vor, dich zu verhören oder so. Wollte nur mal mit dir reden, weil du dich immer so zurückziehst und keinen Anschluss an die Gruppe findest. Fiel mir anfangs übrigens auch ein bisschen schwer. Wenn du keine Lust hast, is' es auch kein Problem."
Sollte ich antworten? Sie hatte sich immerhin die Mühe gemacht, an mein Zimmer zu kommen.
"Okay", das war das einzige Wort, das fiel, bevor ich die Tür öffnete und in Sams strahlendes Gesicht sah.
"Mensch, das is' echt klasse von dir! Ich hab' Herrn Hart Bescheid gesagt, also darf ich reinkommen?"
Ich nickte und ließ sie eintreten, während ich noch schnell mein Bett machte und den Nachttisch ordnete. Was dachte sie nur von mir, wenn sie mein Zimmer in diesem Zustand vorfand?
"Du musst dir keine Mühe machen, ich setz' mich einfach auf den Boden", beschwichtigte sie mich und ließ ihren Worten sogleich Taten folgen.
Da saß sie nun und sah mich aus ihren großen, blauen Augen an. Erwartete sie etwas von mir? Sollte ich jetzt etwas sagen? Ratlos setzte ich mich auf meine Bettkante und senkte den Blick auf den blaugrauen Zuckergussboden, der auch in sämtlichen Patientenzimmern verlegt worden war.
"Um ganz ehrlich mit dir zu sein, Scarlett, weiß ich nich' so Recht, wie ich das jetzt anfangen soll, da du Gesellschaft ja nich' wirklich zu mögen scheinst. Naja, ich leg' jetzt einfach mal los. Frau Hendel kam gestern auf mich zu und meinte, dass die Zimmerbesetzung umstrukturiert werden soll, weil bald jemand Neues kommt. Garrett geht am Mittwoch und als nächstes wird ein Mädchen zur Gruppe hinzustoßen; also wär' da jetzt die Frage, ob du lieber mit mir oder dem neuen Mädchen in ein Zimmer willst. Ich wär' voll offen dafür, zu dir umzuziehen, aber das is' wie gesagt deine Entscheidung."
Obwohl Frau Hendel mich bereits beim Eignungsgespräch darauf vorbereitet hatte, traf mich diese Neuigkeit wie ein harter Schlag in den Magen.
Ich sollte mein Zimmer teilen?
Den Atem eines anderen hören, während ich mich selbst zum Einschlafen zwang?
Zu sinnlosen Plaudereien verleitet werden, die mir schlussendlich auch nicht weiterhalfen?
Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.
Irgendjemand würde in das leere Bett mir gegenüber einziehen, das schien Sams Erzählungen nach unausweichlich. Während ich überlegte, begutachtete ich mein Gegenüber vorsichtig. Wäre sie eine gute Mitbewohnerin oder sollte ich das Risiko mit dem Neuzugang eingehen?
"Ich-", unterbrach ich die unangenehme Stille mit dem verzweifelten Versuch, nach sinnvollen Worten zu suchen. Sam schien mich seltsamerweise zu verstehen, neigte den Kopf leicht zur Seite und lächelte mich an.
"Weißt du, ich kann deine Situation total nachvollziehen. Falls du dich für mich entscheiden solltest, möchte ich dir eins sagen." Da stand sie plötzlich auf und legte sich ihre Hand feierlich übers Herz. "Hiermit schwöre ich, Sam Lively, dir, Scarlett ich-kenne-deinen-Nachnamen-nicht", ich war so überrascht, dass ich ein Kichern stark unterdrücken musste, "dir eine gute Mitbewohnerin zu sein, in guten wie in schlechten Zeiten, beim Aufstehen und Zubettgehen, bis die Klinikentlassung uns scheidet. Amen."
Als wäre nichts geschehen, setzte sie sich mit scheinbar ernster Miene wieder im Schneidersitz auf den Boden und sah mich erwartungsvoll an. Nur ein Zucken ihrer Mundwinkel verriet, wie viel Spaß ihr das Herumalbern gemacht hatte, doch ich sah auch leichte Nervosität in ihrem Blick.
Meine Entscheidung war bereits gefallen.
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Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓
General Fiction••• THE WATTYS 2018 GEWINNER IN "THE CONTEMPORARIES" ••• TEIL 1 DER BLUMENSTRAUß-TETRALOGIE »Schwere Depressionen, Zwangsneurose, starke Angststörungen und psychotische Symptome.« Das ist die Diagnose, die Scarletts Leben verändert. Als ihr offenbar...