Kapitel 22

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Die Enten waren mittlerweile am Uferstück, das exakt unter uns lag, aus dem Wasser geschunkelt und legten sich nun gemeinsam und eng aneinander gedrängt zwischen die Schilfgräser. Flint und ich schwiegen vorerst, doch es war keine unangenehme Stille; eher ein einvernehmliches Schweigen, während wir auf dem Baum saßen, die Natur betrachteten und letzte fahle Sonnenstrahlen genossen, welche durch das Laubdickicht über uns noch bis an die Äste gelangten. Obwohl es erst Anfang Juli war, fühlte es sich an, als wäre seit Monaten Winter. Nicht wegen des Wetters, sondern aufgrund der Kälte, die ich in meinem Inneren spürte. Frau Hendel meinte, dass sei wahrscheinlich psychosomatisch oder eine Nebenwirkung meiner Tabletten, doch es fiel mir schwer, ihr das zu glauben.

Die Kälte kam von mir.

"Dir geht es nicht gut."

Leicht blickte ich zur Seite und sah auf Flints Füße, die er locker in einem gleichmäßigen Rhythmus gegen die unter uns liegenden Äste und Zweige pendeln ließ. Wahrscheinlich beobachtete er mich wieder, doch Augenkontakt war für mich noch immer ein ungeschriebenes Tabu.

"Sonst wäre ich nicht hier."

Das war alles, was ich sagte, bevor ich den Blick abwandte und mich wieder auf die Enten konzentrierte. Zwei von ihnen hatten sich von der Gruppe gelöst und kuschelten sich nebeneinander. Eine hatte ihren Schnabel im Flaum des anderen vergraben und sie schlossen beide genießerisch die Augen. Ich war neidisch auf ihren Frieden.

"Aber gerade geht es dir besonders mies." Er lehnte sich nach hinten und streckte die Arme nach oben aus, griff nach einem stabilen Ast und zog sich an ihm hoch, bis er neben mir aufragte.

Dieses Mal bot er mir seine Hand an.

Dieses Mal ergriff ich sie.

Überraschend behutsam, aber dennoch leicht distanziert half er mir auf und balancierte daraufhin den Ast entlang, bis er an den Baumstamm gelangte. Vorsichtig folgte ich ihm, während ich immer wieder das Horrorszenario eines Absturzes in meinem Kopf abspielte und fast schon verzweifelt versuchte, nicht an den harten Untergrund zu denken, auf den ich fallen würde. Sobald ich bei Flint ankam, bewegte dieser sich schon weiter nach oben, als wäre es ein Kinderspiel.

"Noch höher?"

Es herrschte eine kurze Stille, doch dann drehte er sich zu mir um und sah mir in die Augen. Ich wusste es, da ich zurückblickte. Seine Augen wirkten auf die Distanz dunkel und unter ihnen lagen tiefe Schatten. Das war das erste Mal, dass ich realisierte, wieso er sich in dieser Klinik befand.

Flint war krank.

Genauso wie ich.

"Je schlechter es mir geht, desto höher klettere ich. Mir hilft es, mit einer Distanz auf die Welt blicken zu können, die mir auf dem Boden vorenthalten ist. Du kannst dich einfach von allem lossagen, was dir Sorgen bereitet, und dich dann auf die Geräusche des Windes und das Gefühl der frischen Luft auf deiner Haut einlassen. Ich zwinge dich nicht mitzukommen, aber ich empfehle es dir."

Sollte ich es wirklich tun? Früher war mir nie eine Art von Höhenangst bei mir aufgefallen, doch direkt konfrontiert mit der Gefahr hatte ich auf einmal Angst.

Angst. Ich habe Angst.

Das war das erste Mal seit Jahren, dass ich dieses Gefühl empfand. Es war keine panische oder verwirrte Angst, die mir in den letzten Monaten so oft in grausamer Weise unterbreitet wurde, sondern eine gesunde Form der Angst; das Respektieren einer Gefahr.

Gesund. Dieses Wort fühlt sich merkwürdig an.

"Ich versuche es."

Als Antwort bekam ich von Flint nichts außer einem kurzen Moment der Überraschung, in der seine Mundwinkel nach oben zuckten. Ich hatte ihn verwundert. War das ein gutes oder schlechtes Zeichen?

In den nächsten langen Minuten stieg ich so gut es ging einen Ast nach dem anderen weiter in die Höhe empor. Wie hoch der Baum war, wusste ich nicht, doch für mich fühlte es sich wie eine Ewigkeit an, bis Flint mir schließlich das Zeichen zum Stopp gab. Da ich nicht wusste, wie ich auf die ungewohnte Höhe reagieren würde, schaute ich schlichtweg stur gegen die Baumrinde, bis Flint mich leicht an der Schulter berührte.

"Trau dich. Es ist wirklich schön."

Nach einigen inneren Diskussionen gab ich schließlich nach und bewegte meinen Blick zur sich mir erstreckenden Landschaft, die sich von ihrer besten Seite präsentierte; abgesehen vom Klinikgelände, das ich von hier aus komplett übersehen konnte, erkannte ich nicht weit vom Eingang zur Klinik einen dicht bewachsenen Nadelholzwald, der mir auf meiner Hinreise gar nicht aufgefallen war. In der Ferne erstreckten sich einige Felder, auf denen momentan Raps in einem grellen Gelb leuchtete. Alle auf mich einflutenden Farben und Einflüsse waren absolut überwältigend für meine Augen, die zuvor nur gedeckte Erdtöne und Grauschattierungen gewohnt waren. Es schien, als würde sich mein gesamtes Verständnis für Farben auf einen Schlag verändern. Grün war nicht nur Grün, Blau war nicht nur Blau; sie schlossen sich zusammen zu einem atemberaubenden Zusammenspiel aus verschiedensten Nuancen, die ein einträchtiges Spiel von Schimmern und Schattierungen boten.

"Kann ich für immer hierbleiben?"

"Das denke ich mir auch manchmal. Einfach hier sitzen und nichts tun; nur das Spiel der Natur beobachten. Aber die ganzen Einschränkungen der Ärzte machen das unmöglich."

"Wieso bist du eigentlich hier?"

Zuerst schwieg er und ich befürchtete, ihn auf irgendeine Weise verletzt zu haben, doch dann zuckten seine Mundwinkel erneut.

"Du weißt hoffentlich, dass wir Patienten untereinander nicht über unsere Krankheiten und Diagnosen reden dürfen, oder?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Tut mir Leid."

Das schien ihn zu ermuntern, sich komplett zu mir zu drehen und mich wieder mit seinem Blick zu durchbohren.

"Das sollte kein Vorwurf sein, du bist ja noch nicht einmal eine Woche hier. Mir fällt aber auf, dass du sehr neugierig bist."

"Tut mir Leid."

"Hör auf damit?"

"Womit?"

"Dich zu entschuldigen. Wieso tust du das?"

"Ich weiß nicht, tut mir Le-"

Ich unterbrach mich selber, was Flint schließlich zum Grinsen brachte.

"Schon okay. Ich werde dich jedes Mal dran erinnern, wenn du dich unnötigerweise entschuldigst, denn das musst du dir unbedingt abgewöhnen. Wenn du dich zu oft bei anderen entschuldigst, denken diese automatisch, du seist ihnen untergeben, doch so sollte das nicht sein."

Wir besiegelten unsere stumme Vereinbarung mit Augenkontakt. In dem langsam wärmer werdenden Sonnenlicht konnte ich auch endlich die Farbe seiner Augen erkennen. Sie wirkten wie flüssiges Gold.

"Weißt du, was mir noch auffällt? Ich weiß nichts über dich."

Überrascht über die Wahrheit, die in seinen Worten steckte, senkte ich den Blick und zupfte am Saum meines Pullovers, dessen dunkelblaue Tönung durch das besondere Licht in ein warmes Purpur verwandelt worden war.

"Was gibt es denn über mich zu wissen?"

"Dein Name wäre gut für den Anfang."

Er wusste noch nicht einmal meinen Namen? War ich wirklich so verschlossen ihm gegenüber? Gerade als ich zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, erinnerte ich mich an mein Versprechen und schloss meinen zuvor leicht geöffneten Mund wieder.

"Ich heiße Scarlett."

Sein Gesicht verriet keine Emotionen.

"Passt zu dir."

"Wieso?"

"Naja, einmal ist da dieses unschuldig wirkende, niedliche Mädchen, das keiner Fliege auch nur ein Haar krümmen würde", bei diesen Worten musste ich ein leichtes Lächeln unterdrücken, "doch dann gibt es da noch die zerstörte und verschlossene Seite von dir, die ich bisher kaum einschätzen kann. Das verunsichert mich."

Ich verunsicherte ihn?

"Aber wieso passt dann der Name Scarlett zu mir?"

"Weil du übersäht mit Narben bist, psychischen und wahrscheinlich auch körperlichen. Scar heißt doch Narbe, nicht wahr?"

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