Kapitel 79

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Eigentlich setze ich bei diesem Buch keine TRIGGER-Warnungen, da ich davon ausgehe, das jedem spätestens nach dem ersten Satz des Klappentextes klar ist, worauf er sich hier einlässt. Dennoch komme ich nicht umhin, bei diesem Kapitel genau diese Warnung auszusprechen. Wenn ihr Suizidgedanken habt oder bereits Versuche hinter euch habt: Bitte überlegt euch, ob ihr dieses Kapitel lesen möchtet. Falls dem der Fall ist und ihr euch danach trotzdem emotional instabil fühlt, schreibt mich bitte an und redet mit mir. Ich möchte nicht, dass jemand aufgrund dieses Buches psychische Schmerzen erleiden muss, die ansonsten zu verhindern gewesen wären.

Ich war wie erstarrt. Die Stimme war nach Wochen der Stille zurückgekehrt. Wieso gerade jetzt? In einem meiner tiefsten Momente? Vermutlich war sie genau deswegen hier. Weil ich wieder Schwäche zeigte und zu viel nachdachte. In der Therapie war mir beigebracht worden, über diese Phasen zu stehen, mich abzulenken, mit anderen zu reden – doch dafür war ich zu müde, zu enttäuscht von mir und den Ereignissen, die mich zu der gestörten Person geformt hatten, die heute im Gruppenraum einer Kinder- und Jugendpsychiatrie saß und mit dem Gedanken spielte, tatsächlich auf die Stimme zu hören, die sie schon seit Jahren terrorisierte und niedermachte, unter deren Einfluss sie Schmerzen gelitten und Traumata erlebt hatte. Ich wehrte mich nicht.

Zögernd blickte ich mich nach Herrn Bennett um, der wieder voller Konzentration hinter dem Betriebscomputer saß, und entdeckte dabei auch keinen meiner Mitbewohner. Meine Bewegungen waren ruhig, beinahe zu ruhig, als ich aufstand, mich langsam auf meine Zimmertür zubewegte und schließlich kurz vor ihr zum Stehen kam. Es war, als würde ich mich aus den Augen einer Außenstehenden betrachten, die keinerlei Meinung hatte oder Emotionen äußerte. Ich war einfach nur da, hatte akzeptiert, was nun folgen würde. Und doch...

Wie würde man auf meinen Tod reagieren? Sich schrecklich, vielleicht sogar schuldig fühlen? Richtete ich mit meinem Suizid nicht noch viel mehr Leid an?

Die Tür quietschte, als ich sie hinter mir zuschloss, und der Türrahmen knarrte noch immer, als ich mich bereits auf meinem Bett niedergelassen hatte. Direkt gegenüber von mir stand der mir zugewiesene Kleiderschrank. Er sah so nichtssagend aus, das alte Holz mit grauer Farbe übermalt, wodurch er beinahe direkt in den aalglatten, ebenfalls grauen Boden überging. Die Tristheit dieses Zimmers war ohne Sams Lebensfreude und Farbigkeit, die stets den gesamten Raum erfüllt hatten, nicht mehr zu verleugnen.

"Komm schon, Ozzy, mach mal Tempo!"

Die Tür grenzte mich von der Außenwelt ab, die weiterlief, als ob ich nicht existierte. Einige meiner Mitbewohner trugen sich lautstark aus, um zusammen in den Gemeinschaftsraum der Klinik gehen zu können. Eine mir nur allzu gut bekannte Stimme kristallisierte sich aus der dröhnenden Menge besonders klar heraus. Evelyn redete und lachte unbeschwert gemeinsam mit den anderen, wodurch sogleich ein Samen Hoffnung in mir aufkeimte. Vielleicht würde sie eine Zeit lang um mich trauern, doch letztendlich würde Evelyn ihren Weg auch ohne mich finden. Ohne mich würde sie es gar nicht so schlecht haben. Zuletzt war sie mit Rose und Fay in das Dreierzimmer gewechselt und hatte sich eng mit ihnen angefreundet. Sie würde auch nach meinem Tod weiterleben und Menschen haben, die sich um sie kümmerten und sorgten.

Eine weitere mir vertraute Stimme machte sich nach dem Geräusch der zuklappenden Eingangstür bemerkbar. Herr Olsen war zum Schichtwechsel der Betreuer erschienen und unterhielt sich mit Herrn Bennet, bevor dieser seinem Feierabend entgegengehen durfte.

"Wisst ihr eigentlich schon, was es wird?" Herr Bennett schien gerade zu in Laune zum Tratschen zu sein, was Herrn Olsen lauthals lachen ließ, bevor er sich zu einer Antwort durchringen konnte.

"Nein, aber dieses Mal wollen wir uns auch überraschen lassen, obwohl Eryk sich noch ein Brüderchen wünscht. Das wären dann schon drei Jungs! Iris hofft glaube ich aber insgeheim auf ein Mädchen, sonst wird sie neben vier Männern die einzige Frau im Haus sein. Ziemlich nervenaufreibend, aber die Spannung ist einfach toll. Wir haben noch nicht einmal Namensideen und in einigen Wochen ist bereits der Entbindungstermin!"

Auch er hatte Vertraute, sogar eine eigene, wachsende Familie. Er konnte mein Leben bewegen und oft vereinfachen, doch ich war für ihn vermutlich nur eine weitere Patientin, die er betreute. Eine Patientin wie Evelyn, Rose und Fay es waren. Und wie Sam es gewesen war.

Sam. Verdammt, Sam.

Ich war noch nie religiös gewesen und doch wünschte ich mir, dass Sam mich gerade beobachtete. Vom Himmel aus, denn nirgendwo anders gehörte sie nach ihrem Tod hin. In meinen Gedanken war sie ein leicht pummeliger Engel mit Kurzhaarschnitt und breitem Grinsen im Gesicht, gekleidet in einem überdimensionierten T-Shirt mit bunten Mustern, einer dunklen Jeans und abgenutzten Turnschuhen. Immer wieder hatte ich sie in den vergangenen Wochen und Monaten in mein Leben zurückgerufen, sie am Leben zu erhalten versucht, doch die Erinnerungen an sie wurden jeden Tag schwächer. Ob wir schweigend und friedlich die Stille unseres gemeinsamen Zimmers genossen und jeweils unseren eigenen Gedanken nachhingen oder sie mich mit lustigen Grimassen und schlechte Witzen unterhielt; alles wäre mir lieber als der Geruch des Todes im Raum. Der schale Beigeschmack und das ständige Übelkeitsgefühl, die mich jede Sekunde seit ihrem Ableben begleitet hatten, wurden überwältigend für mich.

Der Abstand zwischen dem Koffer und mir wurde immer kleiner. Die Klinke der Schranktür fühlte sich kalt an, glatt und beinahe unecht, und doch drückte ich sie nach unten, nur um auf säuberlich geordnete Stapel an Kleidung zu blicken, die den Blick auf mein eigentliches Ziel verhinderten. Schon seit meiner Kindheit hatte ich die Störung, jede Unordnung und visuelle Störung aus meiner Welt zu verbannen. Eine faltige Bettdecke oder nicht parallel nebeneinander liegende Stifte waren da noch die kleinsten Probleme für mich gewesen. Dutzende Pullover und mehrere Hosen, Socken, Unterwäsche und ein zweites Paar Schuhe. Alle waren penibelst nach ihren jeweiligen Farben und Untertöne, Größen und Schnitten geordnet. Wäre ein Kleidungsstück an einem anderen Platz, würde mich das zur Weißglut bringen. Normalerweise.

Zuerst kamen die Pullover. Alle auf einmal riss ich sie aus dem Regal und warf sie auf den Zimmerboden. Teils hatte ich Stunden gebraucht, meine ganz eigene Ordnung in Aufbewahrungssysteme zu bringen. Jetzt war ein großer Teil dieser Arbeit innerhalb einer Sekunde zunichtegemacht, doch ich fühlte keinen Ärger oder Wut, sondern viel eher ein Gefühl der Befreiung und Abnabelung. Diese Störungen hatten den Besitz über mich genommen, sie waren zu meinem Leben geworden. Nun sagte ich mich von ihnen los. Von meinem Leben.

Nicht einmal zehn Sekunden dauerte es und der gesamte Inhalt meines Kleiderschranks lag überall im Raum verteilt; auf meinem Schreibtischstuhl, der Fensterbank, meinem Bett und größtenteils dem Boden. Nur Sams ehemaliger Schlafplatz blieb unberührt von meiner Reinigungsaktion. Sie sollte nicht mit meinen Zwängen in Kontakt treten, sollte nicht noch meine Last auf ihren Schultern tragen müssen, wo sie doch erst durch ihren eigenen Tod von ihren Krankheiten freigesprochen worden war. Ihr diese neugewonnene Freiheit und Leichtigkeit zu stehlen wagte ich nicht. So etwas Schreckliches hatte sie nicht verdient.

Mein Koffer war aquamarinblau gefärbt, mit einem schmalen, weißen Streifen, der ihn in der Mitte teilte. Dort war sie versteckt. Es war ein Leichtes gewesen, einen Teil der Naht aufzuschneiden und die Klinge in dem Saum des Koffers zu verstecken. Zum damaligen Zeitpunkt wollte es sich mir nicht erschließen, warum ich mich nicht einfach von ihr hatte trennen können, doch mittlerweile war mir alles klar. Ich hatte keine Fragen mehr.

Sie war scharf. Das merkte ich, als ich mir bei der Suche nach ihr die Kuppe meines rechten Zeigefingers aufriss. Doch ich fühlte keinen Schmerz, viel eher sah ich es als Vorgeschmack auf das, was nun kommen würde. Die Stimme hatte Recht gehabt: Ich sollte mich nicht immer weiter vor dem Unvermeidlichen drücken und mir versuchen einzureden, dass ich eines Tages vielleicht doch noch aufrichtig glücklich sein würde. Die Klinge war mein Ausweg aus diesem Albtraum. Kein Nachdenken, kein Zweifeln und kein unnötiges Hoffen würden diese Tatsache ändern. Die Narben an meinen Unterarmen pochten, warteten sehnsüchtig darauf, ein letztes Mal geöffnet zu werden, um mir endlich den Tod zu schenken.

Ich setzte die Klinge an und schnitt.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt