Kapitel 58

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Immer noch fassungslos starrte ich Flint an, ohne etwas zu erwidern. Was hätte ich auch sagen sollen? Er wirkte, als ob er geweint hätte, und eine Ader an seinem Hals stach verdächtig deutlich hervor. Noch nie hatte ich ihn in solch einem miserablen Zustand zu Gesicht bekommen.

"Kannst du rauskommen?"

Endlich brach Flint die Stille und blickte sich gleichzeitig nervös um. Hatte er etwas angestellt?

"Wie? Jetzt?", erwiderte ich vollkommen überwältigt und verwirrt. "Flint, es ist ungefähr 22 Uhr, da kann ich nicht rauskommen!", herrschte ich ihn an, doch wurde mir erst nach einem kurzen Augenblick der Stille seiner Lage bewusst. "Wie bist du denn überhaupt nach draußen gelangt? Alles ist abgeschlossen, wie soll ich denn jetzt zu dir kommen? Man bräuchte dafür die Schlüssel-"

Meine atemlose Antwort wurde von Flint unterbrochen, der mit einem trockenen Lächeln in seinem müden Gesicht einen Schlüssel aus seiner Pullovertasche zog und mit rauer Stimme begann zu sprechen.

"Ich bin zwar nicht kleptomanisch veranlagt, aber Perkins' Schlüsselbund hat mich heute Abend so einladend angelächelt, als er sich zum Feierabend bei unseren Betreuern abgemeldet hat", erläuterte er grinsend, doch mir wich alle Farbe aus meinem sowieso bleichen Gesicht.

"Das kannst du doch nicht tun, Flint! So etwas macht man nicht!"

Am liebsten würde ich ihn anschreien, doch Sam neben mir erinnerte mich durch ihr Schnarchen an ihre Anwesenheit, weshalb ich versuche, möglichst leise zu sein. Letztendlich wäre Sam vermutlich eh nicht aufgewacht; ich hätte neben ihr auch ein Trompetenkonzert veranstalten können.

"Bitte ärgere dich nicht, ich lege seine Schlüssel später in euer Betreuerbüro. Dann wird er mit Sicherheit nur denken, dass er sie dort vergessen hat."

Seine Augen wirkten so verzweifelt und bittend, dass mein Widerstand langsam bröckelte. Wenn Flint sich nach solch einer langen Pause bei mir meldete und das auch noch mitten in der Nacht geschah, musste etwas Schreckliches dahinterstecken. Schließlich stimmte ich nach langem Zögern mit einem kurzen Nicken zu und wartete mit vor Nervosität hüpfendem Herzen auf die Schlüssel, die Flint mir durch die Lücke, die durch das auf Kipp gestellte Fenster entstanden war, durchschob. Dank meiner Ungeschicktheit landeten sie krachend auf dem Boden, doch Sam schlief seelenruhig weiter. Auch die Nachtschicht ließ für einige Sekunden, in denen wir beide uns kein Stück bewegten, nichts von sich hören. Mit zitternden Händen schloss ich das im Fenstergriff angebrachte Schloss auf und öffnete es schließlich komplett, woraufhin ich von der lauwarmen, aber trotzdem angenehmen Nachtluft begrüßt wurde. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch meine Nachtwäsche trug, doch Flint schien sich nicht daran zu stören. Tatsächlich wirkte er, als hätte er mit anderen Problemen zu kämpfen und kümmerte sich herzlich wenig um das, was ich an Kleidung trug. Ich warf noch einen letzten Blick auf die schnarchende Sam und kletterte dann mit klopfendem Herzen vor Angst, aber auch Aufregung durch das Fenster.

Als ich schließlich vor ihm stand und das Ausmaß seiner Situation noch besser einschätzen konnte, kam ich endlich dazu, vernünftig mit ihm zu reden, soweit mir das in meiner Nachtwäsche möglich war.

"Was ist denn passiert?", erkundigte ich mich schließlich besorgt, denn Flints Zustand war wirklich schlimm; die Augenringe, die mir schon bei unserem letzten Aufeinandertreffen aufgefallen waren, schienen sich mittlerweile nur noch verdunkelt zu haben, und seine Haut schien kränklicher als je zuvor.

"Nicht hier", erwiderte er nur kurzangebunden und führte mich über den Innenhof seiner Station zu einer Backsteinwand, wobei er immer wieder mit zuckenden Augen um sich sah.

Schließlich gelangten wir an ein Rankengitter, an dem junger Efeu zu wachsen schien. In der Dunkelheit waren jedoch nur Schemen zu erkennen.

"Möchtest du zuerst oder soll ich vor?"

Was meinte er mit dieser Frage? Nur langsam dämmerte mir, was er zu planen schien.

"Warte einen Moment, du möchtest, dass ich auf das Dach klettere? Bist du wahnsinnig?"

Diese Antwort brachte Flint zum Lachen, dass ich ihm jedoch sofort mit einem strengen Blick verbot. Wir könnten jeden Moment erwischt werden!

"Scar, die Stationen sind doch nur einen Stock hoch. Das ist nicht gefährlich, bitte komm mit. Ich mache das oft und mir ist noch nie etwas passiert. Dabei entdeckt wurde ich auch noch nie. Woanders können wir nicht in Ruhe reden. Bitte, vertrau mir."

In meinem Inneren wusste ich, dass er Recht hatte, doch wahrhaben wollte ich es nicht. Er wurde zwar noch nie erwischt, doch mit mir als Anhängsel waren wir leichte Beute für die Nachtschicht. Andererseits war ich schon mitten in der Nacht nach draußen gegangen, also hätte ich das hier auch erwarten können. Was sollte ich schon tun; etwa zurück in mein Zimmer gehen und nicht einschlafen können? Schließlich stimmte ich widerstrebend zu und ließ mir von Flint helfen, denn alleine wäre ich niemals stark genug für eine solche Kletteraktion gewesen.

Sobald ich auf dem Dach ankam, wurde mir bewusst, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Der wolkenlose Nachthimmel schrie geradezu danach, sich unter ihm hinzusetzen und sich in dieser gemütlichen und vom Rest der Welt abgegrenzten Atmosphäre zu unterhalten. Genüsslich schloss ich für einen kurzen Moment die Augen und atmete die klare, nächtliche Luft ein. Als ich jedoch Flints Schritte hinter mir hörte, öffnete ich meine Augen wieder und drehe mich zu ihm um.

"Hier verbringst du also deine Nächte?"

Erschöpft ließ sich Flint neben mich fallen und lehnte sich zurück, wobei er sich auf seinen Unterarmen abstützte und gleichzeitig den Kopf Richtung Himmel neigte.

"Ja, genau hier verbringe ich meine Nächte, Scar. Und stelle Überlegungen über mich, dich und die Welt an."

Das Blut schoss mir ins Gesicht und ich war mehr als glücklich über die Dunkelheit, die uns umgab.

"Du machst dir Gedanken über mich?"

Die nächtliche Stille wurde von Flints amüsierten Lachen, das er jedoch mir zuliebe zu unterdrücken versuchte, unterbrochen und ich spürte, wie er sich neben mir aufrichtete.

"Bereitet es dir Sorgen, dass man über dich nachdenkt? Oder denkst du jetzt, dass ich Sonette über dich schreibe? 'Oh Scarlett, die blühende Rose am dunklen Horizont; die mich liebkost und tröstet, mit ihrem Haar so blond. Mir Wärme spendet, in nächtlicher Stund; und mich erlöst durch einen Kuss von ihrem sinnlichen Mund.' Keine Sorge, ich bin kein Poet."

War ich es noch, die ihn zuvor wegen seines Lachens ermahnt hatte, brach ich nun selber in ein für mich so untypisches Prusten aus, dass ich mich selbst erschrak. Flint jedoch schien sich bei meinem Anblick herrlich zu amüsieren.

"Es scheint dir zu gefallen. Vielleicht sollte ich wirklich mit dem Gedanken spielen, später einmal Shakespeare-Imitator zu werden", ergänzte er schmunzelnd und grinste mich weiterhin an.

"Das lässt du bitte bleiben. Es gibt nur einen Shakespeare", erwiderte ich gespielt trotzig und verschränkte meine Arme.

"Du magst Shakespeare?"

"Nur seine Theaterstücke, die Sonette nur teilweise."

Und so redeten und redeten wir, ohne das Thema anzusprechen, das mich am brennendsten interessierte; wieso er zu mir gekommen war. Doch in diesem Moment wusste ich aus eigenen Erfahrungen, dass er über alles reden wollte, nur nicht über das. Ich wusste nicht, wann genau es geschehen war, doch wir hatten uns stumm darauf geeinigt, uns einfach nur Gesellschaft zu leisten und nichts anzusprechen, was den anderen belastete. Denn jetzt wollten wir lachen und vergessen, was geschehen war.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt