Kapitel 10

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»Aufstehen! In dreißig Minuten gibt es Frühstück!«

Stöhnend rappelte ich mich in meinem Bett auf. Wie lange hatte meine Nacht gedauert? Eine Stunde? Vielleicht zwei?

Mein Klinikzimmer verschwamm vor meinen Augen, während ich mich langsam aufrichtete und meinen Blick durch den Raum schweifen ließ.

Was jetzt?

Ich scannte den Raum ab und ließ keine Kleinigkeit aus, während sich meine Füße in der Semidunkelheit ihren Weg ertasteten. Noch immer war ich darauf angewiesen, mich irgendwo anzulehnen oder abzustützen; sonst wäre ich mit Sicherheit umgefallen.

Wahrscheinlich sollte ich mich erst einmal anziehen. Es war Monate her, dass ich zum letzten Mal einen geregelten Ablauf am Morgen einhielt; daher fühlte sich die neue Situation unangenehm und fremd an. Wie viel Zeit hatte ich noch? Würde ich rechtzeitig zum Frühstück kommen?

Trotz der Benommenheit, die meinen gesamten Körper umfasste, schaffte ich es schließlich, mir einen weiten Pullover und eine locker sitzende Hose anzuziehen. Zu mehr war ich momentan einfach nicht in der Lage und mein Aussehen war mir herzlich egal. Ich dachte nicht einmal daran, in den kleinen Spiegel neben der Tür zu blicken, während ich meine Socken und Hausschuhe anzog. Kurz vor der Tür blieb ich jedoch stehen und lauschte den Geräuschen des verworrenen Stationsalltags.

Der Frühstückstisch wurde von Betreuern gedeckt, meine Mitpatienten machten sich fertig und ein paar von ihnen saßen in der Sofa- und Sesselecke, die sich genau vor den Zimmereingängen befand.

Wenn ich einfach aus dem Zimmer ginge, würden die Gespräche verstummen und ich wäre jedermanns Lieblingssehenswürdigkeit. Das war schon gestern so gewesen und ich war mir sicher, dass sich vom gestrigen auf den heutigen Tag nichts geändert hatte. Sollte ich einfach warten, bis man uns zum Essen rief?

Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn gerade als ich mich wieder auf den Weg zu meinem Bett machen wollte, wurde meine Zimmertür abrupt aufgerissen. Es war Ozzy.

»Hey du, wir haben jetzt Frühstück. Kommst du oder nicht?«, war alles, was er herausbrachte, bevor er auf dem Absatz kehrt machte und sich wieder zu den anderen gesellte, die mittlerweile auf dem Weg zum Esstisch waren. Leise und möglichst unauffällig schloss ich mich ihnen an, doch blieb schließlich unschlüssig stehen.

Wo sollte ich mich hinsetzen?

»Ach so, Leute? Ich glaube, dass es mal wieder Zeit für eine neue Sitzordnung ist, okay?« Ein gut gebauter Mittdreißiger mit braunem Lockenkopf stellte sich vor die Patienten und begann schließlich, sie um den Tisch herum aufzuteilen. »Rose, könntest du dich bitte neben Arlene setzen? Danke. Oh, und Garrett? Achte bitte darauf, dass Ozzy nicht mehr so viel mit dem Essen herumspielt, das kann er ansonsten in Zukunft selber wegwischen–«

Während es um den Tisch herum immer voller wurde und ich schließlich als einzig übrige Patientin noch hilflos und peinlich berührt im Raum herumstand, kam der unbekannte Betreuer schließlich zu mir. Seine dunkelgrünen Augen funkelten mich freundlich an, solange er mich begrüßte und sich als Herr Hart vorstellte.

Erleichtert atmete ich auf, als er mir den letzten übrigen Platz neben der harmlos wirkenden Fay zuwies und meine wackeligen Knie endlich Ruhe bekamen. Nachdem Evelyn den Tischspruch gesprochen hatte, bewegte sich meine zitternde Hand wie computergesteuert auf den Brotkorb zu.

Ich schaffte es tatsächlich. Das Frühstück verlief soweit es ging reibungslos und meine Person war nicht mehr der Mittelpunkt, da sich die anderen langsam an mich gewöhnten und ein anderes Gesprächsthema ihr Interesse weckte. Dem Gerede schenkte ich jedoch keine besondere Beachtung, stattdessen widmete ich mich meinen Gedanken, die erst jetzt durch die Proteinzufuhr so richtig in Fahrt kamen.

Was mich am meisten beunruhigte war mein Gedächtnisverlust an die vorangegangene Nacht. Das verhieß nie etwas Gutes, da das Gehirn meiner ehemaligen Therapeutin nach meistens die schrecklichsten Erinnerungen verdrängen würde, um die psychische Stabilität des Menschen zu schützen. Also was war es, dass mich so durcheinander brachte? Wieder ein nächtlicher Besuch von ihr? Meiner persönlichen Verkörperung der Angst?

Kaum dachte ich an sie, überkam mich eine unglaublich kalte Gänsehaut am gesamten Körper und mein Kopf begann zu pochen.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Nicht jetzt. Oh bitte, bitte nicht jetzt.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Betont unauffällig begann ich mit meinen Beruhigungsübungen, um meinen Herzschlag zu verlangsamen, dessen momentanes Tempo meinen Brustkorb immer kleiner werden ließ.

Womit habe ich das verdient?

Was habe ich Schreckliches getan, dass ich das hier Tag für Tag durchleben muss?

Die anderen um mich herum begannen nacheinander aufzustehen, was für mich eine ungeheure Erleichterung bedeutete. Durch das Quietschen der Stühle und die Lautstärke der Gespräche schien keiner meinen kleinen Anfall zu bemerken, bevor er sich zu einer ausgewachsenen Panikattacke entwickeln konnte.

Betäubt und mit einem andauernden Piepsen im rechten Ohr machte ich mich auf den Weg zur Stationsküche, um mein benutztes Geschirr abzugeben, putzte danach meine Zähne in dem großen Duschraum, der zum Glück abschließbar zu sein schien, und verkroch mich danach wieder in mein Zimmer.

Die restlichen Jugendlichen auf der Station hatten vormittags Unterricht und machten sich um ungefähr neun Uhr auf den Weg zur Schule, woraufhin ich als einzige auf der Station zurückblieb.

Vorsichtig spähte ich aus meinem Zimmer und entdeckte Herrn Hart, der im Büro der Betreuer saß und konzentriert auf einen Computerbildschirm starrte. Aus der Ferne hörte ich einen Radiosender, doch ansonsten schien es vollkommen ruhig zu sein.

Die freie Zeit nutzte ich, um mich weiter in meinem Zimmer umzuschauen. Viel zu sehen gab es dort allerdings nicht. Zwei Betten in den sich gegenüberliegenden Ecken, zwei an die Wände geschobene Schreibtische und zwei nebeneinanderstehende Schränke, die an die Wand gebohrt schienen, um jegliches Risiko der Selbstverletzung zu minimieren.

Beide waren noch vollkommen leer, da ich mich seit gestern geweigert hatte, meinen Schrank einzuräumen. Direkt nach meiner Ankunft war ich noch felsenfest überzeugt gewesen, dass ich nach einigen Tagen aufgrund möglicher Essstreiks oder ähnlichem wieder aus der Klinik käme und sich der Aufwand des Auspackens daher nicht lohnen würde; doch mittlerweile dachte ich anders über dieses Thema.

Nicht, dass ich Lust auf diesen Aufenthalt hätte, doch wo sollte ich sonst hin? Zurück zu meiner Familie, die einen großen Teil dessen ausmachten, wovor ich zu fliehen versuchte?

Ich hatte sonst keine anderen Verwandten, die in der Nähe wohnten oder mit denen ich gut zurechtkam. Alle Freunde, die ich früher zu haben glaubte, hatten sich wegen meiner Krankheiten von mir abgewandt.

Wem war ich schon wichtig?

Niemandem.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt