Kapitel 85

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Wohin sollte ich jetzt gehen? Zu den Zombieleichen im Sitzbereich des Gruppenraums? In mein karges Zimmer?

Mein Herz pochte aufgebracht und schien mir aus dem Hals zu platzen. Ich fühlte meine Adern pulsieren, den Druck auf meinen Gelenken, die Organe in meinem Körper. Als wäre ich aus vielen Einzelteilen falsch zusammengesetzt worden. Irgendetwas war faul, roch verdorben. Und schon kniete ich auf dem Boden und stülpte meinen Mageninhalt nach außen.

"Oh nein, Scarlett, warte!", hörte ich Esther aus dem Betreuerbüro rufen.

Wie stellte sie sich das vor? Sollte ich meinem Körper sagen, dass er damit aufhören und erst auf mein Kommando fortfahren soll? Momentan war ich zu beschäftigt, atemlos röchelnd die letzten Reste Galle auszuspucken, deren Geschmack meine Lippen kräuseln ließ und für schwarze Flecken in meinem Sichtfeld sorgte. Schon fühlte ich warme Hände an meinen Seiten, die mich sanft nach oben zogen.

"So, wir gehen jetzt erst einmal ins Bad", sprach eine tiefe Stimme, deren Atem nach Zigarettenrauch stank.

Wer war diese Person und warum musste ich allein mit ihm in das Horror-Badezimmer verschwinden? Konnte Esther mich nicht begleiten? Ein verschwommener Blick über die Schulter verriet mir jedoch, dass sie sich meinem Erbrochenen gewidmet hatte und es vom blaugrauen Zuckergussboden aufwischte. Der Anblick ihrer gebückten Gestalt bereitete mir noch ein schlechteres Gefühl als zuvor. Sie hatte sich ihren Tag sicherlich angenehmer vorgestellt.

Der enge Griff, in dem ich mich befand, wurde endlich gelockert, als ich mich auf einen Metallstuhl setzte, der zuvor in die Mitte des Raumes geschoben worden war. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich deutlich größer war als der Mann, der mich hierhin gebracht hatte. Seine hellbraunen, weitgeschnittenen Hosen hatte er hochgekrempelt, da sie ansonsten auf dem Boden schleifen würden, und seine Schuhgröße war sicherlich geringer als meine. Dennoch schien er muskulös zu sein, denn meinen knochigen Körper konnte er mit Leichtigkeit auf dem Stuhl platzieren, ohne Hilfe zu benötigen. Ich spürte seine angespannten Muskeln, während er mich absetzte und zugleich fiebrig zu überlegen schien, was er nun mit der vollgekotzten, neuen Patientin anstellen sollte. Sein Gesicht offenbarte er mir jedoch nicht, sondern drehte sich gleich weg von mir und schloss einen Medizinschrank auf, der an der Rückseite der Tür befestigt worden war. Seine kastanienbraunen Locken standen wirr von jeder Seite seines Kopfes ab. Fast sah er aus wie ein gealterter Pumuckl, wenn da nicht seine athletische Figur und das nachlässig gebügelte Hemd wären.

"Was ein Start, nicht wahr?", plauderte der Betreuer vor sich hin, während er im Arzneischrank und mit diversen Handtüchern hantierte.

Ich war mir nicht einmal sicher, ob er eine Antwort von mir erwartete, weshalb ich lediglich eine leise Zustimmung murmelte. Doch die danach eintretende Stille war nicht von Dauer, denn der Mann drehte sich um und gab mir sein Gesicht zu erkennen. Mein sonst so hyperaktives Herz schien für eine Sekunde stehenzubleiben.

"Nicht erschrecken."

Er hatte einen olivfarbenen Hautunterton, der ihm ein besonderes Aussehen verlieh, eine breite Nase, deren Nasenrücken einen sympathischen Linksknick innehielt, und schmale Augen, die ungewöhnlich hell wirkten. Doch all das trug nicht zu meinem Entsetzen bei. Es waren die Narben.

"So lange war glaube ich noch niemand sprachlos. Ich bin übrigens Tommy."

Sein Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln. Auch wenn er es gut meinte, verschlimmerte er meinen Schockzustand damit nur noch. Oh, ich war unsensibel, verletzend, einfach schrecklich!

"T– tut mir Leid, ... Tommy", begann ich meine Entschuldigung, doch er schnitt mich mit einer abwinkenden Handbewegung ab.

"Das ist doch kein Ding. Einen 'Glasgow Smile' sieht man nun einmal nicht jeden Tag. Ich nehme dir das nicht übel, weißt du? Es gab schon schlimmere Reaktionen. Teilweise werde ich mit dem Joker verglichen, und das ist noch harmlos." Unberührt fuhr er damit fort, seine Arznei vor mir aufzubauen, und begann nach einem prüfenden Blick, mein Gesicht von den Überresten meines Mageninhalts zu säubern. Nun erinnerte ich mich an die befremdliche Bezeichnung für die beiden wulstigen Narben, die jeweils von Tommys Mundwinkel aus über die Wangen bis hin zu den Ohren reichten. Sie schimmerten leicht violett, so wie bleibenden Erinnerungen, die ich an meinen Unterarmen trug. "Ich werde dich jetzt erst einmal reinigen, okay? Sind deine Sachen schon hier? Es wäre sicherlich besser, wenn du dich umziehen könntest."

Mir war es zuvor nicht aufgefallen, doch nach einem Blick auf meinen Pullover stimmte ich ihm widerstrebend zu. Überall waren Erinnerungen an meinen Zusammenbruch.

"Okay", erwiderte ich, verbesserte mich jedoch augenblicklich. "In Ordnung, meine ich."

Mein unbeholfenes Stottern schien Tommy nicht zu irritieren. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Aufgabe, doch ich sah immer wieder, wie er meinen mentalen Zustand zu überprüfen versuchte. Hätte ich ihn auf der Straße als Fremden kennengelernt, wäre ich vermutlich bemüht gewesen, so schnell wie möglich die Straßenseite zu wechseln, doch in der Umgebung der Notfallstation einer psychiatrischen Klinik erschien mir das abstrus. Wir waren hier alle irgendwie gestört und hatten unsere Fehler, Geschichten und Traumata, selbst die Betreuer. Der Hintergrund seiner Narben interessierte mich, doch ich traute mich nicht, ihn danach zu fragen. Wie auch Flint wirkte er auf den ersten Blick humorvoll und locker, doch es erschien mir unangebracht, tiefer zu bohren. Ich kannte ihn erst zehn Minuten.

Jetzt erkannte ich ihn wieder. Er war der Betreuer gewesen, der neben den beiden am Esstisch gesessen und sie überwacht hatte. Derjenige, der dem Mädchen den Anspitzer, den sie zu einer vermutlich tödlichen Waffe umfunktionieren wollte, aus der Hand gerissen hatte.

Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Immerhin konnte ich mich in die Situation des Mädchens nur allzu gut hineinversetzen. Sie wollte es einfach nur beenden, doch selbst das war ihr nicht erlaubt. War es nun richtig, ihr diesen sehnlichen Wunsch zu verwehren, der ihr so viel Leid ersparen würde? Ich wusste es nicht.

"So, mit der groben Arbeit wäre ich hier jetzt fertig", sagte Tommy und sah mich prüfend an. Er schien sich Gedanken darüber zu machen, ob er mich allein lassen konnte. Schließlich entschied er sich dagegen. "Komm, ich begleite dich in dein Zimmer, dann kannst du dich allein umziehen."

Allein. Er hatte es betont, damit ich keine Angst bekam.

"Danke."

Mehr brachte ich nicht heraus.

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