Kapitel 12

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»Nachdem wir den Tisch aufgeräumt haben, kommt ihr bitte noch einmal hierher. Wir sollten besprechen, was wir heute in Sport machen. Es ist ein sonniger Tag und wir könnten ja nach draußen gehen, anstatt in der muffigen Sporthalle zu ersticken«, tönte Herr Hart aus der Küche, in der er momentan die Spülmaschine einräumte.

Sport? Verdammt, das hatte ich total vergessen!

Die nächsten zweieinhalb Stunden verbracht ich in meinem Zimmer; zwanghaft versuchend, die Gedanken an eine Blamage während des Sportunterrichtes zu unterdrücken.

Was sollte schon Schlimmes passieren? Es war nur Sport.

Aber was, wenn ich über meine eigenen Füße stolpere?

Nein. Nein, das wird nicht passieren. Oder doch?

Da ich die Vorhänge zugezogen hatte, fiel kaum Licht in mein Zimmer und ich hatte die Chance, meine Augen auszuruhen. Allein die halbe Stunde am Mittagstisch war eine überdimensionale Anstrengung für mich gewesen und ich mochte mir nicht ausmalen, wie es sich dann erst unter der prallen Sonne, die heute schien, für mich anfühlen würde. Wahrscheinlich fiele ich einfach irgendwann in Ohnmacht; das wäre immerhin nicht das erste Mal.

Durch die Wand hörte ich aus dem Dreierzimmer, in dem meiner Beobachtung nach Evelyn, Fay und Rose zusammen lebten, lautes Gelächter. Wenigstens hatte die drei Spaß.

Werden sie auch über mich lachen?

Meine Hände begannen zu zittern und meine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Ich sollte mich endlich zusammenreißen!

Doch wie?

Ich wusste es nicht.

»Wir gehen in fünf Minuten nach draußen, bis dahin habt ihr bitte eure Sportsachen angezogen und seid bereit. Ozzy, wenn du noch einmal zu spät kommst, gibt es heute Abend eine Stunde früher Zimmerzeit«, rief eine mir unbekannte Stimme. Vorsichtig lugte ich aus meinem Zimmer und sah einen weiteren männlichen Betreuer hinter dem Aquarium stehen und mit Herrn Hart reden. Er war ähnlich wie dieser gebaut, hatte jedoch einen dunkelblonden bis hellbraunen Kurzhaarschnitt.

Noch ein neuer Betreuer? Und dazu ein männlicher?

Mit flackerndem Atem ging ich durch die Tür, schloss sie leise hinter mir und setzte mich auf das alte Sofa, das vor dem Aquarium stand. So war ich vor den Blicken des neuen Betreuers geschützt. Doch mein Schutz währte nicht lange, denn er hatte mich entdeckt und kam nun auf mich zu.

»Na? Ich bin Herr Bennett, wir haben uns ja noch nicht kennengelernt. Du bist Scarlett?«

Ich bejahte.

»Und, freust du dich schon auf Sport?«

In dieser Frage bemerkte ich einen leicht scherzend sarkastischen Unterton und verneinte.

»Anfangs ist es immer ein bisschen schwer, aber das wird schon noch«, mit diesen Worten wandte er sich ab und ging ins Betreuerbüro, um einen Schlüssel zu holen.

Wie oft habe ich diesen Satz mittlerweile schon gehört?

Schweren Herzens musste ich feststellen, dass nun, da es kurz vor 15 Uhr war, auch die anderen Stationsbewohner aus ihren Zimmern kamen und ich somit bald von immer mehr Menschen umgeben war, die sich unterhielten, lachten und Spaß hatten.

Es tat weh.

Es tat weh zu sehen, dass andere so viel Freude am Leben hatten, selbst wenn sie vielleicht in ähnlichen Situationen wie ich steckten.

Es tat weh zu fühlen, dass ich bei ihren Witzen oder Späßen nicht einmal das Gefühl von Belustigung oder Unterhaltung spürte.

Es tat weh zu hören, dass sie sich mochten und gern hatten, Unternehmungen für die nächsten Stunden oder Tage planten und sich so aus ihren krankheitsbedingten Tiefs zogen.

Wieso kann ich das alles nicht?

Wieso ist so viel mit mir falsch gelaufen?

Wieso?

Wieso?

Wieso?

Ich hätte ewig so weiter machen können, doch jetzt musste ich meine Konzentration vorrangig darauf lenken, nicht in Panik auszubrechen, da sich unsere Gruppe aus den Sesseln und Stühlen erhob und sich auf den Weg zum Sportplatz machte.

Es war das erste mal seit meiner Einweisung, dass ich mich nach draußen, geschweige denn auf das Klinikgelände bewegte, daher zitterten meine Knie und ich bekam bei jedem Schritt mehr das Gefühl, ich würde in wenigen Momenten umkippen.

Die hellen und intensiven Sonnenstrahlen trafen mich wie ein Elektroschlag, als ich auf den Innenhof hinaustrat. War es im Sommer schon immer so heiß gewesen? Ich begann in meinem sicherlich hochroten Gesicht zu schwitzen und der Umstand, dass ich aufgrund fehlender Sportkleidung einfach meine alltäglichen, weitgeschnittenen Kleidungsstücke angelassen hatte, verbesserte meine Situation nicht gerade sonderlich.

Glücklicherweise schien der Basketballplatz, auf dem wir anscheinend unseren Sportunterricht haben würden, nur ungefähr fünfzig Meter vom eigentlichen Klinikgebäude entfernt zu sein, was mein Herz mir mit einem langsameren Pumpen dankte. Erleichtert atmete ich auf und ging etwas aufrechter, während ich meine Umgebung inspizierte.

Ging man vom Innenhof meiner Station auf das Klinikgelände, traf man erst auf einen rotgepflasterten Weg, der sich an den Stationen entlangrankte. Links lag Merkur und rechts Uranus. Die restlichen drei Stationen hatten auf der anderen Seite ihre Ausgänge, momentan sah ich allerdings keine Patienten von anderen Stationen.

Trotz dieser Erleichterung war der kurze Gang zum Basketballplatz eine wahre Tortur für mich. Nicht einmal eine so kurze Strecke konnte ich ohne Probleme gehen. Wozu war ich eigentlich in der Lage, wenn mir allein so eine einfache Angelegenheit solche unglaublich großen Schwierigkeiten bereitete?

Als wir endlich angekommen waren, lehnte ich mich außer Atem an dem Gitterzaun, der den gesamten Platz umgab und circa vier Meter hoch war, ab und schnappte möglichst unauffällig nach Luft. Die anderen sollten nicht mitbekommen, wie schlecht es mir ging, denn ich hatte meiner Meinung nach schon gestern genug Aufmerksamkeit bekommen.

»Alles in Ordnung, Scarlett?« Herr Hart näherte sich mir, während sein Kollege den Platz aufschloss und die Jugendlichen sich auf diesem verteilten. Welche andere Möglichkeit blieb mir übrig, als jetzt die Zähne zusammenzubeißen und diese eineinhalb Stunden durchzuhalten, auf welche Weise auch immer? Wenn ich das nicht täte, würde man meine Therapeutin und Eltern kontaktieren, um sie über meine negativen Verhaltensweisen in Kenntnis zu setzen.

Daher riss ich die Augen auf, um meine Sinne anzukurbeln, und atmete noch ein letztes Mal intensiv aus, bevor ich mich aufrichtete und auf den Platz sah.

»Ja, ich bin okay.«

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt