Kapitel 63

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"Sam ist auch nicht vergangen, Scarlett, und verbleichen wird sie ganz sicher nicht. Das verhindern wir, indem wir an sie denken, uns an sie erinnern und über sie reden. Genau das tun wir doch gerade, nicht wahr?"

Hilflos nickte ich und legte meinen Kopf auf meinen angewinkelten Knien ab, während meine Gedanken in ferne Welten abschweiften und mich wegtrugen von der Realität, die mir momentan grausamer erschien als jeder Horrorfilm. Wie sollte ich all das nur ohne meinen Frohsinn schaffen? Nicht nur das Überwinden von Sams Tod und der Zeit in der Klinik stellten immense Herausforderungen für mich dar, sondern ebenfalls das wahre Leben nach der Psychiatrie. Ich konnte mich besten Willens nicht mehr daran erinnern, wie mein Leben vor der Krankheit und all den mit ihr kommenden Belastungen ausgesehen hatte. War ich wirklich glücklich gewesen oder hatte ich schon damals nur so getan, um meine Mitmenschen zufriedenzustellen? So sehr ich mich auch bemühte und versuchte, Erinnerungsfetzen aus meinem Innersten heraufzubeschwören, wollte es mir einfach nicht gelingen und ich blieb rat- und ahnungslos zurück. In einem Becken schwimmend, das kein Ende zu nehmen vermochte.

Einsamkeit.

Das war, was ich fühlte, obwohl doch Evelyn so nah bei mir war und sich offensichtlich um mich sorgte. Sie bemühte sich so sehr, damit es mir auch nur ein klein wenig besser ging, doch ich gab ihr nichts als Stille zurück. Für diese Selbstzentriertheit hasste ich mich, doch mir war es schlichtweg nicht möglich, mich in meiner aktuellen Situationen um jemand anderen zu sorgen, obwohl ich es so gern täte. Wie sollte ich jemanden vor dem Ertrinken retten, wenn ich selbst nicht schwimmen konnte?

"Wollen wir vielleicht doch zusammen nach draußen gehen?"

Ihrem hoffnungsvollen Blick nach zu urteilen meinte sie es wirklich ernst und ich hatte in diesem Moment nicht die Kraft, um ihr zu widersprechen, weshalb ich mich ohne jeden Willen von ihr mitziehen ließ; erst zum Schuhschrank, aus dem sie meine abgetretenen, beigefarbenen Stiefeletten herauskramte, die mittlerweile schon etwas Staub angesetzt hatten, dann zum Betreuerbüro, vor dem sie uns zusammen für einen Ausgang eintrug und sich schließlich fröhlich lächelnd von den Betreuern verabschiedete, bis wir schließlich gemeinsam an die frische Luft traten.

Der Wind, der meine Haare ins Wirbeln und mich aus dem Gleichgewicht brachte, fühlte sich merkwürdig fremd auf meiner empfindlichen Haut an, als würde ich geschlagen werden, doch zur selben Zeit war es wie ein Aufweckruf. Erst nach einigen Minuten, in denen wir stillschweigend nebeneinander hergelaufen und die Natur um uns genossen, wurde mir bewusst, was gerade geschah.

Ich sah.

Ich roch.

Ich hörte.

Ich fühlte.

Ich lebte!

Langsam und sehr zaghaft schlich sich ein schmales Lächeln auf mein Gesicht, als ich meinte, den kleinen und mir nur allzu bekannten Sol auf einem blühenden Busch direkt neben mir entdeckt zu haben. Welch sonstiger Vogel würde sich so nah an mich herantrauen? Freudig näherte ich mich ihm und streckte geduldig meinen Finger aus, an dem er sofort vorsichtig zu knabbern begann. Hatte er mich vermisst? Erinnerte er sich noch an mich? Selbst wenn nicht half es mir, ihn erneut zu treffen, denn mir war er wichtig. Ein kleines Lebewesen, dass meinem Leben selbst so abgekapselt gegenüberstand und mir doch teils mehr geholfen hatte als ausgebildete sowie studierte Fachärzte. Einfach nur durch seine Anwesenheit fühlte sich mein Herz automatisch leichter und freier an, ich stand aufrechter und mein Kopf klärte sich von den verschmutzenden Gedanken, die ihn all die vorherigen Tage belastet und eingenommen hatten.

Doch uns blieben nur ein paar kurze Sekunden des Grußes, bevor mich Evelyn bereits weiterzog, ohne zu bemerken, wobei sie mich unterbrochen hatte. Vermutlich war sie davon ausgegangen, ich würde jede Sekunde zusammenbrechen und weinend aufgeben wollen, wobei genau das Gegenteil der Fall war. So fremd und dennoch wunderschön fühlte sich die Welt an, die ich seit Wochen, Monaten oder Jahren das erste Mal wieder richtig in mich aufnehmen konnte. Dieser Zustand würde nicht lange andauern, dessen war ich mir bewusst. Dennoch wollte ich diese wenigen Minuten genießen, bevor ich zurück in mein dunkles Loch an Selbsthass, Depressionen und psychischen Störungen gezogen wurde.

Nur ein paar Augenblicke, in denen ich farbig sehen, frischaufgegangene Blütenblätter riechen, das Vogelgezwitscher und Blätterrascheln hören und den Wind auf meinem Gesicht fühlen wollte. Einfach nur leben, wenn auch für kurze Zeit.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt