Kapitel 33

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Er war es tatsächlich.

"Hallo, Scar."

Mir fiel auf, dass ich Flint noch nie direkt gegenüber gestanden hatte; entweder musste ich ihn aus der Ferne beobachten oder wir saßen auf dem Baum, dessen weitausladende Äste automatisch eine gewisse Distanz zwischen uns gebracht hatten.

Nun befand er sich jedoch direkt vor mir und schaute mich aus seinen vom Schalk besessenen Augen an, während er wahrscheinlich eine schlagfertige Erwiderung von mir erwartete. Doch mein Kopf war vollkommen leergefegt und ich starrte ihn einfach nur weiterhin stumpf an.

Was machte er hier?

Ach ja, die Klinikschule. Hätte ich mir gleich denken können.

"Hallo, schätze ich."

Ratlos wandte ich meinen unsicheren Blick ab und starrte auf den gepflasterten Platz vor der Klinikschule, um dem intensiven Blick meines Gegenübers auszuweichen. Auch wenn mir die vorherigen Gespräche mit ihm geholfen hatten, wusste ich nicht, was ich in genau diesem Moment hätte sagen sollen. Als ich mich wieder aufrichtete und unsere Blicke sich kreuzten, schien er mich jedoch zu meiner Überraschung zu verstehen.

"Wollen wir zusammen zurück zur Klinik gehen? Ich bin gerade mit meinem Mathekurs fertig geworden und habe dich vor der Schule stehen sehen, also dachte ich..."

"Dachtest du was?"

"Dass ich dich am besten ansprechen sollte, bevor du dich für immer und ewig auf dem Rückweg verirrst."

Meine vorige Verwirrung schien ich also auch nach außen getragen zu haben; und das, obwohl ich dachte, ich konnte meine Gefühle relativ gut vor anderen verbergen.

"Danke."

Warum sollte ich es auch leugnen? Ich hatte nun einmal keinen besonders ausgeprägten Orientierungssinn; besonders nicht in einer Situation wie dieser.

"Ist das dein erstes Mal in der Klinikschule gewesen?"

"Ja." Für einen Moment hielt ich inne, um die bestmögliche Formulierung zu finden. " Es war eine eher kurzfristige Entscheidung."

"Lass mich raten; sie fiel am heutigen Morgen?"

"Genau."

Unwillkürlich zog sich sein linker Mundwinkel nach oben, obwohl er das Lächeln zu unterdrücken versuchte. Flint wandte sich dem vor uns liegenden Weg zu, wobei er aufgrund der direkten Sonneneinstrahlung die Augenbrauen zusammenziehen und seine Augen fast komplett schließen musste.

"Wollen wir?"

Ich wollte schon mit "Okay" antworten, unterbrach mich jedoch sofort bei dem Gedanken an Sam, die mir bei Verwendung des O-Wortes wahrscheinlich ohne Rücksicht auf Verluste einen kräftigen Schlag mit der nächstbesten Bratpfanne verpassen würde.

"In Ordnung."

So machten wir uns schweigend auf den Weg und beobachteten im Vorbeigehen die Natur, die mich direkt an Sol erinnerte. Wie ging es ihm? Wo war er gerade? Würde ich ihn je wiedersehen? Um mich herum ertönte Vogelgezwitscher, doch mein kleiner Freund schien nicht unter den Sängern zu sein.

"Suchst du jemanden?"

Flint schaute mich fragend an, was ich vollkommen nachvollziehen konnte. Immerhin hatte ich die letzten Minuten verzweifelt in die Büsche gestarrt, an denen wir vorbeigegangen waren, und hatte tatsächlich etwas gesucht. Nicht etwas, jemanden.

Hielt er mich für verrückt?

Falls ja, hätte er immerhin Recht.

"Auf meinem Hinweg ist mir ein kleiner Vogel begegnet und hat mich nicht mehr verlassen, bis ich die Klinikschule betreten habe. Jetzt ist er weg und wahrscheinlich bedeutet das auch gar nichts, aber naja...-"

"Du vermisst ihn?"

"Das hört sich wahrscheinlich ziemlich dämlich an."

"Überhaupt nicht."

Was?

"Wie bitte?"

"Ich finde das sogar ziemlich cool. Du könntest dich in Zukunft 'die Vogelflüsterin' nennen und eine Show im Fernsehen haben."

Und da geschah es; ich lachte.

Vollkommen unzensiert und ungehemmt lachte ich über Flint und seinen bescheuerten Witz.

Sobald ich mich jedoch wieder unter Kontrolle bekam und meine Lachtränen aus den Augenwinkeln wischte, sah ich schnell beschämt zur Seite. Verdammt, ich hätte mich nicht so offenbaren sollen, ich kannte Flint ja gar nicht wirklich!

"Hey, nicht schüchtern sein."

Mittlerweile waren wir auf dem menschenleeren und schlammdurchzogenen Weg stehen geblieben und harrten für einige Augenblicke aus. Er schien nicht abgeschreckt von mir zu sein, was mich noch mehr verwunderte als mein plötzlicher und für mich so ungewöhnlicher Lachanfall.

"Weißt du, Scar, ich finde es schön, dass ich dich zum Lachen bringen konnte. Mach das bitte öfter."

Hatte er das gerade wirklich gesagt?

Jeder Anflug von dem üblichen Sarkasmus oder Humor war verschwunden, als ich ihm in seine trüben Augen blickte. Erst in diesem besonderen Moment fiel mir auf, wie zerstört und erschöpft Flint aussah. Seine dunklen Haare fielen ihm in Strähnen ins Gesicht und unter seinen sonst so wachen und neckenden Augen prangten dunkelviolette Ringe. Sein gesamtes Auftreten war regelrecht zusammengesunken und ich bekam schleichend das Gefühl, dass ich ihn gerade das erste Mal richtig sah. Ohne den Sarkasmus, den er sonst immer wie eine unsichtbare Mauer um sich erbaut hatte.

"Wie geht es dir, Flint?"

Als Antwort zuckte er nur mit den Schultern und drehte sich wortlos von mir weg, bevor er begann, den Weg zögernd fortzusetzen.

"Wag es ja nicht, gerade jetzt wegzugehen."

Überrascht von meinem ungewohnt heftigen Tonfall schlug ich mir reflexartig die Hand vor den Mund. Flints breite Schultern zitterten, als er stehenblieb und, das Gesicht noch immer von mir abgewandt, Luft holte. Es schien fast, als wäre er voller nicht entladener Wut, bei der er nicht wusste, wohin er sie stecken könnte. Nach einigen Sekunden schien er sich jedoch wieder einigermaßen gefangen zu haben.

"Die letzten Tage waren nicht gerade einfach."

Da hatte ich meine Antwort.

"Was heißt das?"

Er erwiderte nur Schweigen.

"Flint?"

Langsam und betont beständig atmete er wieder aus und lockerte seine Schultern. Was belastete ihn so sehr?

"Ich habe ein paar Mal im Time-Out Raum Urlaub gemacht. War nicht empfehlenswert."

Sofort schossen meine Gedanken zurück zu der Erinnerung, die ich am liebsten für immer von mir wegschließen würde; das Mädchen, welches sich mit Händen und Füßen wehrte und von mehreren Männern in eine kleine Kabine gedrängt wurde. War es Flint so wie ihr ergangen? Was hatte er sonst noch alles durchstehen müssen?

"Erzähl mir alles."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt