Kapitel 80

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Piep. Piep. Piep.

Ein Rascheln. Ein Schnarren. Ein Klacken.

Piep. Piep. Piep.

Meine Augen verwehrten ihre Funktion und blieben geschlossen.

Piep. Piep. Piep.

Meine Lunge arbeitete nur mühsam, mein Herz fühlte sich wie ein Stein.

Piep. Piep. Piep.

Ein Lichtflackern in meinem Augenwinkel. Ein schweres Gefühl auf meinem Gesicht. Schmerzen in meinem Körper, Leere in meinem Kopf. Fühlte sich so der Tod an? Das hatte ich mir anders vorgestellt. Der Befreiungsschlag blieb aus, stattdessen fühlte ich mich schwerer als je zuvor.

Piep. Piep. Piep.

Mein zuvor eingeschränktes Sichtfeld vergrößerte sich nun endlich, wenn auch nur langsam. Jeder Millimeter war ein Kraftakt und erforderte Stärke, die ich nicht besaß. Irgendetwas rasselte.

Piep. Piep. Piep.

Das ständige Rasseln entpuppte sich als mein Atmen. Wie lange war ich schon bei Sinnen? Die Zeit könnte genauso gut stehen bleiben, mir würde kein Unterschied auffallen. Noch immer spürte ich einen Fremdkörper auf meinem Gesicht. Ich wollte meine Arme heben, dieses Ding von mir reißen, doch ich konnte es nicht. Meine Arme gehorchten mir nicht.

Piep. Piep. Piep.

Ich erkannte Wände, weiße Wände, und Schränke, ebenfalls weiß. Ihre Oberfläche wirkte glatt und milchig, doch mein Spiegelbild gab sie nur verzerrt wieder. Ein kleiner, dunkler Schatten auf einem großen, weißen Bett. So sehr sich meine Muskulatur mir wiedersetze, bewegte ich meinen Kopf vorsichtig nach rechts. Es war Tag. Ein sanfter, morgendlicher Sonnenschein benetzte meine Augen mit Licht und blendete mich.

Piep. Piep. Piep.

Vielleicht fühlte ich mich nur so schwer an, weil ich wahrhaftig und endgültig gestorben war? Gab es diesen ominösen Fremdkörper in meinem Gesicht tatsächlich oder bildete ich ihn mir nur ein? Der Tod war nicht friedlich, sondern angsteinflößend.

Piep. Piep. Piep.

Allmählich gewöhnten sich meine Augen an den Lichteinfall und erkundeten meine Umgebung. Links von mir befand sich eine graublaue Tür mit einem schmalen Fenster, durch das ich jedoch nicht hindurchblicken konnte. Eine weitere, jedoch fensterlose Tür schien in einen angrenzenden Raum zu führen, und zwischen den beiden Eingängen stand ein reichlich überfüllter Tisch. Heliumluftballons mit bunten Aufschriften, Karten, Kuscheltiere und anderer Krimskrams stellten einen merkwürdigen Kontrast zur fast schon medizinisch anmutenden Umgebung dar. Medizinisch...

Ich war nicht tot.

Piep. Piep. Piep. Piep. Piep–

Meine Augen bewegten sich derart panisch, dass mir schwindelig wurde. Wo war ich? Was hatte man mit mir gemacht? Wieso lag ich allein in diesem weißen Raum?

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Das Piepen verlangsamte sich und ich konnte wieder nach Luft schnappen. Ich durfte nicht in Panik ausbrechen, musste mich zusammenreißen und herausfinden, wo ich mich aufhielt. Die zerknitterte Bettdecke auf mir war weiß wie auch der Rest dieses Zimmers, meine Haut glich dieser Farbgebung und ließ lediglich blaue Äderchen durchscheinen, doch meine Unterarme offenbarten ein vollkommen anderes Bild. Dunkelviolette bis grünlich gelbe Flecken zierten die Haut um die Verbände, die um meine Arme angebracht worden waren. An meinem rechten Handrücken lag ein Zugang, durch den ich mit allen möglichen Medikamenten vollgepumpt wurde. War ich deshalb so schläfrig und benommen gewesen?

Meinen linken Arm konnte ich zu keiner Bewegung animieren, doch mein Kopf war mittlerweile recht agil. Nach einem Hin und Her hatte ich die Atemmaske so weit verschieben können, dass mein Mund frei lag und ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Vorsichtig setzte ich mich auf und neigte meinen Schädel, der brummte, als hätte ich eine schwere Gehirnerschütterung hinter mir, in Richtung des Zugangs, bis ich ihn endlich mit den Zähnen zu fassen bekam und aus meinem Handrücken ziehen konnte. Augenblicklich fühlte ich mich um Tonnen an Gewicht erleichtert und spürte dennoch auch nach mehreren Minuten keine Besserung meines Zustandes. Dass selbstständige Atmen fiel mir zwar schwer, doch das war mir lieber, als das Gewicht der Atemmaske, die nun auf meinem Kinn ruhte, die gesamte Zeit über direkt auf mir spüren zu müssen.

Ich war in einem Krankenhaus, so viel hatte ich mir bisher erschließen können. Doch selbst nach all der Zeit, die ich bereits hier lag und unfähig war, mich zu bewegen, hatte ich keinen einzigen Menschen zu Gesicht bekommen. Meine einzigen Begleiter waren die Maschinen um mich herum. Manche erkannte ich aus früheren Krankenhausaufenthalten, andere waren mir vollkommen fremd. Ein Monitor, der meine Herztöne maß, wurde nun zum Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit. Das Piepen, das mit den Ausschlägen einherging, hatte ich zuvor als Stören empfunden, doch irgendwann akzeptierte ich es als das, was es war. Mein Herzschlag. Auch wenn ich mir sehnlichst wünschte, dass das Piepen auf einmal für immer verstummte und mit ihm auch mein Herz.

Die innerlichen Vorwürfe ließen sich nicht mehr länger zurückhalten. Mein Selbstmordversuch war fehlgeschlagen. Schon wieder hatte ich mein eigentliches Ziel verfehlt. Der Tod war mir als Ausweg vorgekommen, einem Weg, dem Klinikalltag zu entfliehen, doch jetzt fand ich mich einer Situation der Überwachung wieder, die ich mir in keinem Albtraum hätte ausmalen können. Die Klinik war im Vergleich hierzu ein Wellnessurlaub.

Die morgendliche Sonne wurde immer schwächer, bis der Himmel schließlich begann, eine orangefarbene Tönung anzunehmen. Es wurde Abend und abgesehen von entfernten Stimmen und Rufen hatte ich nichts vernommen. Auch der Park vor meinem Fenster schien geradezu menschenleer, nur in weiter Ferne konnte ich wenige schattenartige Gestalten ausmachen, die sich vom Gebäude entfernten. Würde dies nun mein Alltag werden? Das Piepsen und Schnarren und Klacken der Geräte? Die Einsamkeit und Schmerzen und Leere, die sich wie ein Wirbelsturm in mir ansammelten und zusammen nur noch Schlimmeres anrichteten? Es war mir egal, denn ich hatte dieses Schicksal verdient.

Ich hatte versagt. Schon wieder.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt