Kapitel 38

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Die kommenden Nachmittage verbrachte ich mit Sam und Ernie. So hatte ich das kleine, blau Stoffäffchen getauft, dass Sam mir zuvor schüchtern und leicht beschämt überreicht hatte. Mittlerweile hatte ich ihn auf meinem Schreibtisch platziert, wo er uns und insbesondere Sams Albernheiten gut im Blick hatte.

Es tat gut, ein Mädchen in meinem Alter zum Reden zu haben, obwohl ich das niemals öffentlich zugeben würde. Sam brachte mich zum Lächeln, was sonst jedem anderen zuvor schwergefallen war; doch etwas an ihr war so leichtfüßig und unbeschwert, dass man einfach mit ihr lachen musste, ob man nun wollte oder nicht.

Sobald wir jedoch auf ernstere Themen zu sprechen kamen, riss sie sich zusammen und versuchte, so gut wie möglich auf die wenigen Informationen, die ich preisgab, einzugehen. Anders als ich öffnete Sam sich viel schneller und ich wusste schon einiges über ihre Diagnose, denn neben der mir bereits bekannter psychosomatischer Epilepsie litt sie auch unter einer "Störung des Sozialdingsbums", wie Sam es liebevoll ausdrückte. Sie wusste bisher nur von meinen Schlafstörungen, doch das war auch unvermeidlich. Hin und wieder weckte ich Sam auf, während ich mitten in der Nacht aufstand und unruhig im Zimmer umherstromerte. Bei ihrem festen Schlaf musste das schon etwas heißen, denn normalerweise lag sie in ihrem Bett wie ein Stein. Ein sehr lauter Stein.

Allerdings war mir bewusst, dass sie mehrere Dinge bereits erahnte; denn oft fiel es mir schwer, meine Gefühle im Zaum zu halten und ich starrte einfach nur gefühlskalt gegen die Schrankwand, während Sam mich besorgt über den Rand ihres Comicheftes musterte. Gleichzeitig spürte sie, dass ich noch nicht bereit zum Reden war, also ließ sie mir meinen Freiraum, wofür ich ihr unendlich dankbar war.

Eines Tages war Sam mit einem Tennisball vom Sportplatz zurückgekehrt und seit jenem Zeitpunkt gehörte es zu unseren Lieblingsbeschäftigungen, den Ball immer wieder hin und zurückzuwerfen, während wir uns – oder eher gesagt Sam mir – Anekdoten oder lustige Geschichten zu erzählen, um die Zeit bis zur nächsten Therapie- oder Schulstunde totzuschlagen. Mehr gab es nicht zu tun, denn jegliche Form der Mediennutzung war uns strengstens untersagt; erst vorletzte Woche war Evelyn dabei erwischt worden, ihr Handy außerhalb der zuvor vereinbarten halben Stunde zu benutzen. Als Strafe bekam sie einen Tag Zimmerzeit, eine Woche Telefonverbot und jede Art des Ausgangs wurde ihr für einen Monat untersagt. Es gab Zeiten, in denen ich mich wie in einem Hochsicherheitsgefängnis fühlte, doch dann munterte mich Sam mit einem sarkastischen Spruch wieder auf und der Alltag nahm wieder seinen Lauf.

Man könnte fast sagen, es wäre eine Art Alltag eingekehrt, doch für mich blieb immer der dunkle Schatten meiner Familie im Hinterkopf; noch keinen einzigen Besuch hatte ich empfangen, doch diese Woche sollte sich das ändern. Meine Eltern hatten sich für den kommenden Mittwochnachmittag angemeldet und mir seit dieser Ankündigung Kopfschmerzen bereitet. Ich wollte sie nicht sehen oder hören, doch gleichzeitig fühlte ich das skurrile Bedürfnis, irgendeine Art des Kontaktes zur Welt außerhalb der Klinikmauern zu knüpfen; selbst wenn das bedeutete, Zeit mit meiner Mutter und meinem Vater verbringen zu müssen.

"Abendessen, Leute! Wascht euch die Hände und kommt zu Tisch", hörte man Herrn Harts dröhnenden Bass aus dem Gemeinschaftsraum.

"Na toll, wieder trockenes Brot und krümeliger Käse, serviert auf dem edelsten Plastikgeschirr, das es auf dem Markt zu holen gibt. Einfach geil", murmelte Sam mürrisch, als sie sich vom Bett rollte und am Rücken kratzte. "Manchmal würd' ich lieber gar nix als diesen Klinikfraß zu mir nehmen. Und hey, wenn ich das sag', muss das schon was heißen, nich'?"

Schmunzelnd stimmte ich ihr zu und bewegte mich schwerfällig aus unserem Zimmer in den Gemeinschaftsraum, in dessen Essbereich sich schon die restliche Gruppe versammelt hatte. Nachdem wir uns schnell die Hände gewaschen und anschließend zu den restlichen gesellt hatten, stand Herr Hart schwungvoll von seinem klapprigen Holzstuhl auf und blickte in die Runde.

"So... Alle da?", nachdem jeder bejahte, fuhr er fort. "Ich weiß, dass jeder von euch wahrscheinlich einfach nur Hunger hat und endlich zulangen möchte", mir gegenüber schnaubte Sam höhnisch, "doch heute Abend hat jemand aus eurer Gruppe eine große Ankündigung zu machen. Bitte reagiert tolerant und hört bis zum Ende zu, bevor ihr Fragen stellt. Arlene?"

Arlene wollte eine Ankündigung machen? Ich verstand die Welt nicht mehr, da sie sich bisher noch stärker aus den Tagesgesprächen herausgehalten hatte als ich, doch tatsächlich stand die Fünfzehnjährige auf und klammerte sich mit ihren verschwitzten Händen an der Tischkante fest. Wovor hatte sie nur solch große Angst? Ihr gesamtes Gesicht war verzerrt und ihre Augen zuckten aufgeregt hin und her, als sie immer wieder anzusetzen versuchte, ihr Atem ihr jedoch entgegenspielte.

"Äh, also...", wieder unterbrach sie sich und brachte ein kleines, trockenes Räuspern zustande, bevor sie mit zitternder Stimme fortfuhr, "ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, wie ich das jetzt anfangen soll, also rede ich am besten einfach", ihr nervöser Blick wanderte fragend zu Herrn Hart der ihr aufmunternd zunickte.

"Kein Problem, das kriegst du hin."

"Gut, na dann. Seit zwei Jahren schleppe ich dieses Geheimnis nun mit mir herum und habe es noch niemandem außerhalb der Therapie erzählt. Ihr seid die ersten, die es hören. Ich fühle mich, naja, falsch. In meinem Körper. Also, ich bin euch zwar als Arlene vorgestellt worden, aber es fühlt sich so nicht richtig an. Ich möchte, will und kann mein Leben nicht als Frau leben und mich mit jedem Tag mehr hassen, sondern ich selbst sein."

"Was heißt das denn jetzt?", rief Osborn dazwischen.

"Schnauze, Ozzy. Einfach mal die Klappe halten", nun schaltete sich Sam mit ein und lächelte Arlene mit ihrer typischen, unbeschwerten Art an, was dieser Mut zu geben schien.

Ein letztes Mal holte sie tief Luft.

"Ich bin transsexuell."

Nach diesem Satz breitete sich komplette Stille über den gesamten Raum und niemand wusste, wie man auf dieses Outing reagieren sollte, bis ich leise anfing zu klatschen und ihn anlächelte, was er leicht überrascht, jedoch freudig erwiderte. Langsam stiegen auch die restlichen in den Beifall mit ein und sprachen ihm Glückwünsche zu, auf die er vollkommen überfordert und sprachlos reagierte.

Wenn ich an all die Angst dachte, die er vor seinem Outing gehabt haben musste, war ich gerade unglaublich stolz auf...

Auf wen denn?

"Und wie dürfen wir dich nennen?", fragte ich ihn zögerlich und noch immer etwas zurückhaltend, aber dennoch stetig lächelnd.

Seine Augen weiteten sich und er schien kurz verunsichert vor dem letzten Schritt, überwand sich dann aber mit letzter Kraft.

"Arthur."

Und da stand er nun. Der alten Schale entledigt und endlich er selbst.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt