Kapitel 64

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"Geht es dir gut, Scarlett?"

Ein dumpfes Dröhnen beherrschte meinen Kopf, doch ich riss mich zusammen und blinzelte, bis mein Blick sich wieder klärte und ich Evelyn deutlich vor mir erkennen konnte.

"Jetzt schon, schätze ich."

Was war das? Wollte mich das dunkle Loch, aus dem ich gerade erst mühevoll gekrochen war, erneut zurückhaben und mich in seine Tiefen ziehen?

"Bist du dir sicher? Wollen wir vielleicht zurück zur Station gehen? Du siehst wirklich nicht gut aus, entschuldige."

Neben mir im Gras erspähte ich eine kleine Amsel, die sich vermutlich auf der Suche nach Würmern befand und emsig ihrem Alltag nachging. Immer wieder schreckten ihre Glieder plötzlich zusammen, als würde sie die kleinsten Unebenheiten noch in hunderten Metern Entfernung spüren. Wie konnte sie das? Wieso war mir eine solche Feinfühligkeit nicht möglich?

"Ich würde gerne hierbleiben, wenn das in Ordnung ist."

Ihr Zögern verriet mir ihre innere Zerrissenheit, doch Evelyn stimmte mir schlussendlich mit einem stummen Nicken zu und geleitete mich weiter in den Park. Nach einigen Minuten, in denen ich wie ein Junkie während eines Drogenrausches jeder Kleinigkeit in meiner Nähe Beachtung schenkte und sie ausführlich beobachtete, bevor ich meinen mühsamen Weg weiter beschritt, waren wir endlich unter einer mächtigen Eiche angekommen, deren dichtes Blätterdach uns genügend Schatten für eine Verschnaufpause spendete, welche wir anscheinend beide dringend nötig hatten. Die Landschaftsszenerie kam mir merkwürdig bekannt vor, bis mir dämmerte, dass ich bereits zuvor schon einmal hier gewesen war. Damals hatte ich die Enten auf dem damals noch etwas sumpfigem Teich betrachtet und mich in ihrem Anblick verloren, bis ich schließlich von Flint und seinen sarkastischen Bemerkungen aus meinen Überlegungen gezogen worden war.

Wie es ihm wohl in den letzten Wochen ergangen war? Mit Sicherheit wusste er von Sam, denn am Morgen nach ihrem Tod hatten sich viele der Patienten aus purer Neugier vor dem Eingang versammelt und den Krankenwagen beobachtet, wie er beinahe gemächlich aus der Einfahrt gerollt war. Jedoch bezweifelte ich, dass er sich unter ihnen befunden hatte. Er war nicht einer der Menschen, die sich durch das Leid anderer unterhalten fühlten oder ihre Nase in Dinge steckten, die sie eigentlich nichts angingen. Das unterschied ihn von vielen der Jugendlichen, die sich teilweise unverschämt über das Geschehen geäußert hatten, wie sich Evelyn mir gegenüber einige Tage später zu berichten traute.

"Jo, hat die sich den goldenen Schuss gesetzt oder was?"

"Mann, und ich dachte, ich wäre die nächste, die den Scheißladen hier in einem Leichensack verlässt."

Natürlich hatte es ehrlich Betroffene gegeben, die sich entweder weinend in den Armen lagen oder betreten den Boden anstarrten, doch es waren diese unsensiblen und verletzenden Kommentare gewesen, die mich in letzter Zeit nachts vom Schlafen abhielten. Wie konnten all diese Menschen nur so über Sam reden? Konnten sie sich nicht denken, wie taktlos und gleichgültig sie dadurch mit dem Tod einer Gleichaltrigen umgingen?

Unterschwellige Wut sowie pure Verzweiflung bahnten sich in mir an und ich versuchte, diese so schnell wie möglich wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch Evelyn bemerkte das Zittern meiner Hände und schien ansatzweise zu verstehen, wieso ich seit Minuten kein Wort mit ihr wechselte.

"Du wirst darüber hinwegkommen. Es ist wie ein tiefer Schnitt, weißt du? So wie meine Wunden an meinen Armen. Kurz nachdem", ihre Hände, die meine umschlossen, verkrampften sich für einen Moment, doch sie holte erneut tief Luft und setzte wieder zum Sprechen an, "es passiert ist, haben meine Wunden heftig geblutet und dieser Verlust hätte mich beinahe sterben lassen. Ich dachte wirklich, ich würde in diesen dreckigen Toilettenräumen meinen letzten Atemzug machen müssen, aber dann kamst du und hast meine Schnitte verbunden. Du hast mich gerettet. Verstehst du das, Scarlett?" Erst nach einem zaghaften Nicken meinerseits fuhr sie fort. "Gut, denn das darfst du nicht vergessen. Ohne dich hätte ich gar nicht die Möglichkeit, jeden Tag aufzustehen, nach draußen zu gehen oder zu reden. Herrgott, ich könnte nicht einmal diesen scheußlichen Klinikfraß essen! All das, diese alltäglichen und scheinbar lästigen Dinge, wäre mir nun verwehrt."

Ich spürte einen tiefen Stich in meinem Herzen.

"Sam kann all das jetzt nicht mehr tun."

Einige Sekunden herrschte betroffene Stille zwischen uns, in denen ich nur das sanfte Rauschen der Blätterwerke über uns wahrnahm, doch auf einmal setzte Evelyn erneut an und schien nun überzeugter als je zuvor.

"Aber du kannst es, Scarlett, du kannst all das erleben! Egal was du in diesem Moment denken oder fühlen magst, es wird vorbeigehen. Dieser Schnitt wird verheilen, so wie es meine Wunden in diesem Moment tun. Damals warst du für mich die Lebensretterin, die mich versorgt hat, und jetzt möchte ich das für dich übernehmen. Bitte lass mich das tun! Du blutest zwar nicht äußerlich, sodass es alle sehen könnten, doch ich weiß von deinen Ängsten, Zweifeln und Schuldgefühlen. Sie werden niemals komplett spurenlos verschwinden, genauso wie ich immer einen leichten Schmerz fühlen werde, sobald ich meine Narben berühre, doch es wird weniger werden, bis du dich schließlich eines fernen Tages sogar daran gewöhnt hast. Ich weiß, dass das jetzt auf dich nur wie eine hohle Versprechung wirkt, aber bitte glaub mir. Die Welt wird niemals wieder perfekt für dich sein, aber dafür jeden Tag ein kleines bisschen weniger beschissen."

Hatte sie Recht? Ich wusste es nicht, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ihre Worte hatte ich gehört, doch waren sie bei mir angekommen? Das würde sich erst morgen entscheiden, nachdem ich darüber geschlafen hatte; oder auch nicht, wenn man meinen aktuellen Schlafrhythmus betrachtete.

"Wirst du es wenigstens versuchen?"

Fragend und mit inständiger Hoffnung in ihren blauen Kulleraugen sah mich Evelyn an. Das fahle Licht, welches durch das Blätterdach fiel, versetzte ihrem sonst so rosastichigen Gesicht ein angenehmes orangefarbenes Schimmern. Ein kurzes Flackern erhellte uns und unsere Umgebung, sodass ich selbst die Natur erkennen konnte, die zuvor im tiefen Schatten gelegen hatte. Im Morast des mir nahegelegenen Teichufers hatten sich einige um Nahrung zeternden Schwäne versammelt, wobei ihre perlweißen Federn von der warmen Sonne geradezu in helle Flammen gesetzt wurden. Neben ihnen tänzelten unbeholfene Entenjungen umher, die sich scheinbar noch nicht an die deutlich größeren Vögel herantrauten und sich stattdessen im Schilf zu verstecken versuchten.

Ich senkte meinen Blick und betrachtete mein direktes Umfeld, als sich meine Aufmerksamkeit auf ein Fleckchen Moos richtete, das direkt neben mir an einer Wurzel der Eiche wucherte. Vorsichtig berührte ich seine weiche Oberfläche mit meiner fast kalkweißen Fingerkuppe und strich nach einiger Zeit immer wieder über die Pflanze, welche sich perfekt an die Bewegungen meiner Finger anpasste. Es wirkte so unscheinbar und unbedeutend, doch ich genoss diesen Moment mehr als den gesamten vorangegangenen Ausflug.

Ruhe und Frieden und Moos und ich.

"In Ordnung, ich werde es versuchen."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt