Kapitel 21

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Mittlerweile war es schon 13:28 Uhr und ich hatte mich noch immer nicht entschieden, ob ich mich erneut mit Flint treffen sollte oder nicht. Schon seit Monaten verabscheute ich jegliche menschliche Gesellschaft, doch gleichzeitig sehnte ich mich nach einem gleichgesinnten Menschen, der mich verstand. Die gemischten Gefühle in mir verursachten starke Bauchschmerzen, mit denen ich mich schon den gesamten Tag herumquälte. Gestern war ich um ungefähr 13:30 Uhr aus der Station gegangen, doch ob ich es heute ebenfalls tun würde, war mir schleierhaft.

Was, wenn er sich insgeheim über mich lustig machte und eigentlich über meine Person lachte, während ich mir ernsthafte Gedanken machte? Vielleicht war ich ja einfach nur ein Witz, mit dem er die Zeit schneller verstreichen lassen wollte.

Andererseits wurde mir der Ausgang sowieso verschrieben und ich würde mich aus der Station wagen müssen, egal was Flint letztendlich vorhatte. Ich musste es einfach von mir selbst aus wagen, bevor die Betreuer mich dazu nötigten.

Also zwang ich mich, von meiner mittlerweile hartgelegenen Bettmatratze aufzustehen und aus dem Fenster zu gucken, das auf den Innenhof Merkurs zeigte. War er bereits losgegangen oder machte er sich gar nicht erst die Mühe? Vielleicht blieb er ja auch einfach auf seiner Station und amüsierte sich gerade herzlich über mich?

Mühsam schob ich die negativen Gedanken, die meinen Kopf wie eine dunkle, alles dämpfende Staubwolke umgaben, zur Seite und konzentrierte mich auf das Wesentliche.

Ich muss nach draußen.

Kurzerhand griff ich mir einen Pullover und zog ihn an, woraufhin ich einigermaßen sicheren Schrittes zum Betreuerbüro trat und Frau Foxworth über meinen Ausgang Bescheid gab. Ihrem überraschten Ausdruck nach zu urteilen war sie anscheinend davon ausgegangen, mich nach draußen zu scheuchen müssen, doch ich bewies ihr das Gegenteil. Zwar ging ich mit gesenktem Kopf, um den Blicken einiger meiner Mitpatienten, die sich im Gruppenraum zu Gemeinschaftsspielen versammelt hatten, zu entgehen, doch wenigstens ging ich selbstständig.

Fünf Minuten darauf erreichte ich außer Atem den kleinen See mit den Schilfgräsern und fühlte mich automatisch wohler, obwohl ich noch immer hechelte wie ein Mops nach einem Marathonlauf. Allein diese kurze Strecke zu gehen hatte mich überdurchschnittlich viel Zeit und einen Großteil meiner Kraft geraubt. Mit leicht taumelnden Schritten bewegte ich mich auf die Schilfgräser zu, die leicht in der gewohnten Windbrise schwankten und ein wildes, aber beruhigendes Schattenspiel auf den sumpfigen Untergrund vor ihnen warfen. Hier fühlte ich mich mehr zu Hause als je bei meiner Familie, was zwar merkwürdig, doch gleichzeitig auch selbsterklärend für mich war.

Der See schlug mich nicht.

Der Wind schrie mich nicht an.

Die Enten stritten sich nicht wegen jeder Kleinigkeit mit mir.

Die Schilfgräser waren gute Zuhörer und empfingen mich einladend.

"Du bist tatsächlich gekommen."

Ich wusste schon, wer sprach.

"Ich musste sowieso raus."

Langsam drehte ich mich um und sah Flint über mir sitzen, die Arme neben seinem Körper abgestützt. Wieder wirkte er so entspannt, so anders als bei diesem gewissen Zwischenfall im Innenhof, sodass es mir schwerfiel, in diesen komplett verschiedenen Persönlichkeiten dieselbe Person zu sehen.

"Zwangsausgang?"

"Ja."

Woher wusste er das? Ich traute mich nicht zu fragen, doch er schien die Frage meinem Gesicht ablesen zu können.

"War bei mir anfangs auch so, da ich mich stur geweigert habe, irgendetwas zu tun. Dann sind sie das Ganze etwas extremer angegangen und haben mich täglich für eine halbe Stunde vor die Tür gesetzt." Er klopfte neben sich und hob eine Augenbraue als stumme Frage. "Möchtest du?"

"Auf einen Baum klettern?"

"Hört sich erst einmal komisch an, aber es tut gut, auf alles mit ein wenig Entfernung schauen zu können."

Sollte ich wirklich? Was wenn ich abrutschte, hängenblieb oder mir ein ähnliches Missgeschick passierte?

"Ich bin zu schwach."

"Wieso?"

"War ich schon immer."

"Soll ich dir helfen?"

Menschlicher Hautkontakt war mir noch unangenehmer als ein drohendes Missgeschick, also lehnte ich sein Angebot mit einem kurzen Kopfschütteln ab und ging auf den Baumstamm zu, der auf mich riesig und unbezwingbar wirkte.

Wie um alles in der Welt sollte ich es bis zu Flint schaffen?

Die Rinde war rau, wie die Rückseite der Schilfgräser. Meine schmale Hand wirkte im direkten Vergleich zum nun dunkelbraunen Untergrund noch zierlicher und blasser, als sie es bereits war, und die hellblauen Adern stachen farblich deutlich hervor. Meine gesamte Haut war weiß-blau marmoriert.

Vorsichtig setzte ich meinen linken Fuß auf einen Aststumpf, der sich in erreichbarer Höhe von mir entfernt befand. Nach dem ich einigermaßen stabilen Halt gefunden hatte und meine angestrengten Muskeln wieder etwas entspannen konnte, machte ich mich auf die Suche nach einem weiteren Vorsprung. Allein für den Aufstieg brauchte ich sicherlich ein paar Minuten, die jeder andere in mindestens dem doppelten Tempo geschafft hätte, doch Flint sagte nichts Abwertendes oder Entmutigendes. Er ließ mir die Zeit, die ich brauchte, und griff auch nicht nach meiner Hand der suchte sonstigen Körperkontakt, als ich mich voller Mühen auf den Ast, auf dem er bereits saß, hievte.

Er hatte verstanden.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt