Kapitel 68

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"Und du? Hast du Geschwister?"

Nach einem Moment, indem ich aus Schreck zusammenzuckte, wandte ich mich Flint zu und stützte meinen Kopf auf meinen angewinkelten Knien.

"Einen älteren Bruder. Er ist mittlerweile achtzehn Jahre alt."

Flints Blick wanderte auf den Boden und er begann, Kräuter aus dem Boden zu rupfen. Dieses Verhalten kannte ich bereits von mir, wenn mir etwas unangenehm war oder ich Stress loswerden musste.

"Wie ist er so?"

Einige Sekunden lang suchte ich nach den richtigen Worten, um unsere Beziehung zu beschreiben, bis mir auffiel, dass uns gar keine wirkliche Geschwisterliebe verband. Wir wohnten seit meiner Geburt unter demselben Dach, aßen vom gleichen Geschirr, saßen auf den gleichen Möbeln und doch fühlte er sich lediglich an wie ein Mitbewohner.

"Er ist wie ein Bekannter für mich. Nicht mehr, nicht weniger. Wenn du mich nach seinem Lieblingsessen fragen würdest, könnte ich dir keine Antwort geben. Umgekehrt wäre es genauso", überlegte ich laut und rückte näher an den Fuß der Eiche heran, die mir ein Gefühl des Schutzes vermittelte; auch wenn ich über etwas sprach, das mir unglaublich unangenehm war.

Flints Gesichtszüge verrieten nichts, doch seine Hände rupften weiterhin die Gräser um ihn herum aus dem Boden. Beinahe wie versteinert blickte er auf den See vor uns und schien in Gedanken versunken zu sein, bis er endlich den Mund öffnete und zu sprechen begann.

"Ich schätze, dann verpasse ich hinsichtlich meiner Familie nicht so viel. Bei mir wäre es sicherlich keinen Deut besser, außer dass wir nicht so viel Geld hätten", stellte er mit fast schon bitterem Tonfall fest und mein Herz sank mir augenblicklich in die Hose.

Woher wusste er von dem Wohlstand meiner Familie? Hatte ich es zuvor in einem Nebensatz angedeutet, ohne es zu bemerken? Mein Blutdruck stieg rasant und ich merkte, wie ich rot anlief.

"Ähm, wie hast du-"

"Herausgefunden, dass dein Vater vermutlich irgendein Geschäftsführer einer verdammt erfolgreichen Firma ist? Das war nicht so schwer. Als deine Eltern vor einigen Wochen zu einer Therapiesitzung erschienen sind, habe ich ihn in seinem Auto telefonieren gesehen, obwohl sich solche Leute hier normalerweise nicht herumtreiben. Da du dich sehr gewählt ausdrückst und mir bis dahin nur sehr wenig von deiner Familie erzählt hattest, musste ich Eins und Eins zusammenzählen. Stimmt meine Schlussfolgerung? Oh, bitte sag ja, das wäre echt genial", beendete er sein sarkastisches Plädoyer und grinste mich siegessicher an.

Unabsichtlich musste ich aufgrund seiner Albernheit grinsen und mir fiel zeitgleich ein Stein vom Herzen. Entgegen meiner Befürchtung, er wäre mir wegen meiner familiären Umstände böse, war es ihm gelungen, diese unangenehme Situation doch noch mit einem Lacher zu lösen.

"Ja, du hast mit deinen Beobachtungen recht", gab ich daraufhin kleinlaut zu und vertiefte dabei ungewollt mein Lächeln, was Flint wohlwollend aufnahm. "Du solltest Anwalt oder Ermittler werden, finde ich."

Augenblicklich zog er seine rechte Augenbraue in die Höhe und sah mich zweifelnd an. Hatte ich wieder etwas Falsches gesagt?

"Ich soll mich also jeden Tag in einen Anzug zwängen und mich als Held feiern lassen, wenn ich einen Fall im Interesse der Gesellschaft gelöst habe? Darauf verzichte ich lieber. Wenn ich schon arbeite, dann möchte ich dabei frei, unabhängig und an keinen Arbeitgeber gefesselt sein. Ansonsten würde ich mich eingesperrt fühlen. Noch schlimmer sind für mich die Büros. Dort wäre ich Tag um Tag eingekerkert und könnte dem Ganzen nur zu Essenszeiten und dem lang ersehnten Feierabend entfliehen. Ich möchte diesen Alltagstrott nicht, in dem man sich und seine ursprünglichen Ziele langfristig aus dem Auge verliert und stattdessen in eine Arbeitsmaschine mutiert. Das bin ich einfach nicht."

Ich konnte nicht mehr tun als ihm ohne Worte zuzustimmen. Schon wieder hatte Flint es geschafft, die Gedanken aus meinem Kopf zu nehmen und in den richtigen Worten zu verpacken. Anstatt mit leeren Äußerungen die einige Stimmung zwischen uns zu verschwenden, lehnte ich mich endgültig zurück und spürte die Baumrinde in meinem Rücken und Hinterkopf. Sie stach mich nicht, eher erinnerte mich ihre äußere Härte daran, dass ich lebte und fühlte. Einige Minuten verbrachten wir so; ich an die Eiche gelehnt und er links vor mir mit dem Blick auf den See. Er wirkte wie in Hypnose, doch wirkte gleichzeitig so, als würden noch mehr Gedanken ihr Unwesen in seinem Kopf treiben.

"Was kommt nach all dem hier?", flüsterte er schließlich heiser und schluckte hart.

Erst nach einigen Sekunden begann mein Kopf zu arbeiten, doch selbst dann konnte ich keine zufriedenstellende Antwort finden.

"Ich schätze, wir werden leben. Diese Zeit in der Klinik ist nur ein Kapitel eines Buches, das unser Leben beschreibt. Mit der Ausweisung aus der Klinik schlagen wir ebendieses zu und öffnen einen neuen Teil, der noch nicht geschrieben wurde. Leere Seiten warten darauf, bekritzelt zu werden mit Geschichten aus unserem Leben. Ob sie nun gut oder schlecht ausgehen, müssen wir für uns entscheiden. Dann können wir selbst die Feder in die Hand nehmen und unser Schicksal schreiben."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt