Kapitel 91

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Tag 14 auf der Notfallstation.

Es war Heiligabend, der Tag vor der großen, morgendlichen Bescherung. Ich erwartete keine Geschenke, hatte noch nie viel vom Konsumverhalten in der Weihnachtszeit gehalten und doch sendeten die rot-grünen Dekorationen, die in der gesamten Klinik verteilt waren, ein beinahe heimeliges Gefühl in meinen Bauch. Die Mühe dahinter berührte mich viel eher als die Rentiere und Tannenbäume, die vom Kindergarten der Klinik gebastelt worden waren. Auch wenn das Fest der Liebe und Familie nicht unpassender für mich sein konnte, ließ ich mich ein wenig mitreißen.

Wie bisher jeden Samstag, den ich auf der Station verbracht hatte, führte Esther uns vor dem Frühstück zum Untersuchungsraum des Chefarztes, um Gewicht und Größe zu protokollieren. So streng hatte ich das von Jupiter nicht in Erinnerung gehabt, doch es ergab Sinn: Seit meiner Aufnahme hatte ich fünf Kilo zugenommen und sah nicht mehr aus, als bestünde ich aus Haut und Knochen. Gestern Abend waren meine Schulterblätter sogar nicht mehr zu sehen gewesen, als ich meinen Körper im Spiegel begutachtet hatte. Ich fühlte mich nicht schlecht über die gewonnenen Kilos, sondern freute mich über jedes Gramm, das mich näher zum Normalgewicht brachte. Vielleicht würde ich dann auch von selbst gesünder aussehen.

"Na? Träumst du vom Kuss unterm Mistelzweig?", unterbrach mich ein Flüstern von hinten.

Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen. Alvin vergnügte sich gerne damit, herumzuwitzeln, um mich zum Lächeln zu bringen. Für ihn schien es geradezu ein Wettkampf zu sein.

"An so etwas denke ich nicht."

"Sicher? Du guckst so schwärmerisch auf den Tannenbaum da hinten."

"Ich habe nun einmal eine Schwäche für Pflanzenkunde."

Er brach in Gelächter aus und erschrak damit den Rest der Patienten, die teilweise wie verschreckte Kaninchen, andererseits aber auch einfach nur gleichgültig aussahen und Löcher in die Backsteinwände des Klinikgebäudes starrten. Wir waren die einzigen, die sich – bisher leise – unterhalten hatten.

Ein braunhaariger Junge aus meiner Station trat aus dem Untersuchungszimmer und machte den Platz frei für Jennifer, die sichtlich zitternd auf die Arzthelferin zuging. In den vergangenen Tagen hatte sie kein einziges Wort mit mir gewechselt, doch das war auch in Ordnung. Sie brauchte vermutlich noch Zeit, um sich an mich als neue Zimmernachbarin zu gewöhnen, auch wenn ich inzwischen immer wieder versucht hatte, mich als offen ihr gegenüber zu zeigen.

Doch wie wirkte man freundlich und zugänglich, wenn man selbst mit Dämonen zu kämpfen hatte? Ich wusste es nicht und so blieb mir nichts übrig, als Jennifer hin und wieder ein ermutigendes Lächeln zuzuwerfen. Aber war ich zu aufdringlich? Oder wirkte mein Gesichtsausdruck heuchlerisch, so wie ich es oft bei anderen beobachten musste? Mochte sie mich vielleicht einfach nicht und wollte Abstand, doch ich ließ es nicht zu? Jede meiner Handlungen ging mit dutzenden Selbstzweifeln Hand in Hand.

Noch zwei andere Patienten standen vor mir und verlängerten die Wartezeit. Meine Beine fühlten sich taub an und am liebsten hätte ich mich vor Müdigkeit auf den Boden fallen lassen, doch ich bemühte mich weiterhin, ruhig zu bleiben. Hoffentlich hatte ich zugenommen.

Jennifer trat aus dem Zimmer. Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort vom Rest der Gruppe ab und brach weinend zusammen. Mitten auf dem Flur kniete sie sich hin und schluchzte lauthals. Ihre eingezogenen Schultern zitterten angespannt und niemand traute sich, etwas zu sagen.

"Brauchst du ein Taschentuch?" Ich hätte nichts sagen sollen. "Oder etwas zu trinken?"

Sie hörte mich nicht und vergrub sich stattdessen immer tiefer in ihrem Elend, aus dem sie es nicht alleine herausschaffen würde. Ich zog ein Taschentuch aus meiner Pullovertasche und näherte mich ihr in kleinen Schritten.

"Jennifer?"

Ich kniete mich neben sie und legte das Taschentuch vor ihr auf den Boden. So war sie zumindest nicht dazu gezwungen, mit mir zu interagieren, sondern konnte sich in Ruhe sammeln. Oder war auch das falsch und aufdringlich von mir? Verdammt, ich wusste es nicht.

Gerade wollte ich aufstehen und meinen Platz in der Schlange vor dem Arztzimmer wieder einnehmen, als ein heiseres Flüstern mich davon abhielt.

"Danke", brachte Jennifer unter Schniefen und Tränen hervor. Ihr Blick löste sich vom Boden und suchte meinen; als ich jedoch ihre Augen sah, unterdrückte ich den Drang, vor Schreck zusammenzuzucken. Diverse Äderchen waren geplatzt und ließen es aussehen, als würde sie aus den Augen bluten.

Was sollte ich jetzt tun? War das gefährlich?

"Mensch, Jennifer, hoch mit dir", brummelte Chester plötzlich und drängte sich zwischen uns. Bis zu diesem Moment hatte er tatenlos von seinem Platz an der Tür des Untersuchungszimmers stillgehalten und mein Handeln unkommentiert gelassen, doch auf einmal schien der Wohltäter in ihm zum Leben erwacht zu sein. Auf meinen Armen breitete sich Gänsehaut aus. Ich hatte ein übles Gefühl bei ihm.

Hinter uns öffnete sich die Tür. Dass die Welt um mich herum sich weiterdrehte, hatte ich beinahe vergessen; umso überraschter war ich, als die Arzthelferin auf einmal meinen Namen rief.

"Scarlett Bell? Kommst du?"

Augenblicklich wurde ich zurück in das Mädchen verwandelt, das zur ersten Arztuntersuchung in der Klinik angetreten war. Verängstigt, unsicher, verstört. Ich brachte nichtmehr als ein leichtes Nicken heraus.

"Kein Grund, nervös zu sein, du hast hier nichts zu befürchten", besänftigte mich die Blondine und schob sich ihre knallpinke Lesebrille auf dem Nasenrücken zurecht. Sie meinte es vermutlich gut, doch ihre Worte heizten meine Blutbahnen nur noch mehr an, während ich meine Kleidung abstreifte und mich auf die Waage stellte.

Hoffentlich hatte ich zugenommen.

Bitte hatte ich zugenommen.

Ich war es leid, ständig außer Atem zu sein, Kreislaufprobleme bei kleinsten Aktivitäten zu bekommen und zu nichts imstande zu sein. Vor allem seit meiner Zeit auf der Intensivstation im Krankenhaus, als ich wochenlang an Geräte angeschlossen war, hatte ich rapide an Gewicht verloren und es bisher nicht wieder aufholen können. Schon zuvor war meine Ausdauer nicht die beste gewesen, doch seither hatte dieser Zustand sich nur noch verschlechtert.

Vielleicht würde ich bald sogar alleine duschen dürfen, wenn ich stabil genug war. Emily hatte mir erzählt, dass die Betreuer sich deswegen wöchentlich berieten und abschätzten, bei wem es notwendig war. Vielleicht, vielleicht, vielleicht...

Vielleicht würde ich mich aus den Fesseln befreien können, die ich selbst um mich gewickelt hatte.

"Gewicht: 55,6kg. Größe: 1,80m. BMI: 17,2", ratterte die Arzthelferin meine Daten herunter und legte ihren Blick dabei ausschließlich auf die ihr vorliegenden Dokumente. Ich fühlte mich wie ein medizinisches Experiment, eine Laborratte, die zugunsten des Fortschritts geopfert wurde.

"Vorheriges Gewicht?" Die Ärztin begutachtete mich prüfend.

"54,7 Kilogramm."

Schon war das Experimentieren vorbei – und ich hatte zugenommen. Unwillkürlich lächelte ich, die Erleichterung fiel von mir wie ein schwerer Umhang der Dunkelheit, der einen kurzen Moment des Lichts offenbarte.

"Du kannst gehen", stellte die Ärztin fest und widmete mir keinen weiteren Blick.

Vielen Dank für das Gespräch.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt