Im Verlauf des nächsten Nachmittags geschah es dann also tatsächlich. Ich bekam eine Mitbewohnerin.
Ein paar Stunden nach dem Mittagessen begann Sam, ihr Bett zu beziehen, ihren Kleiderschrank einzuräumen und überall in unserem jetzt gemeinsamen Zimmer Bilderrahmen aufzustellen, die ihre Hunde, Familie und Freunde zeigten. Wo zuvor eine kahle Wand meine innerliche Vereinsamung widerspiegelte, spannten sich nun mehrere Poster von Indie-Rockbands. Der Kontrast zwischen unseren Betten machte nunmehr den Unterschied unserer psychologischen Zustände deutlich; während sich auf ihrem Kopfkissen fünf bunte Kissen und Kuscheltiere aneinanderdrängten, besaß ich abgesehen von meiner hellgrauen Bettdecke nichts dergleichen.
Während sie sich einrichtete, plapperte Sam wie ein Wasserfall, doch ich hörte ihr nach einiger Zeit nicht mehr zu. Nicht aus Langeweile, sondern weil ich mich in diesem Moment verlor.
Jemand verbringt freiwillig seine Zeit mit mir.
Mir.
Nachdem sie einigermaßen mit ihrer Seite des Zimmers zufrieden war und sich langsam beruhigt hatte, setzte sie sich auf ihr Bett und blickte an die Decke. Es war zwar still im Zimmer, doch nicht unangenehm. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, ohne den anderen zu stören.
Plötzlich ertönte ein ratterndes Schnarchen.
Sam hatte Recht gehabt, als sie mich vor ihrem schlafenden Selbst warnte, denn der Geräuschpegel der Laute, die sie von sich gab, erstickte jede andere Geräuschquelle im Keim. Wie sollte ich jemals zur Ruhe kommen, wenn meine Mitbewohnerin so tief schlief? Bereits jetzt ahnte ich, was für schwere Nächte ich demnächst durchleben müsste, doch ich brachte es nicht über mich, sie aufzuwecken.
Sie wirkte so unglaublich zufrieden. Mit ins Gesicht fallendem Pony, offenem Mund und völlig entspannten Gesichtszügen sah sie gleich um zehn Jahre jünger aus. Erst jetzt fiel mir auf, wie angespannt sie manchmal am Esstisch saß und ihre Augen auf etwas in weiter Ferne richtete, völlig abgeschnitten von ihren Mitmenschen.
Sam war krank.
Genauso wie Flint.
Genauso wie ich.
Plötzlich begannen Krämpfe ihren schlafenden Körper zu schütteln, der sich dem völlig kraftlos hingab. Ihr Brustkorb schüttelte sich immer wieder und als ich vorsichtig näher trat, erkannte ich die Schweißperlen, die ihre Stirn und so gut wie jedes freiliegende Stück Haut bedeckten.
Was sollte ich tun?
Durfte ich sie anfassen?
Bemerkte sie, was gerade mit ihr passierte?
Zaghaft berührte ich sie an ihrer linken Schulter, die gleich bei der Berührung regelrecht in die Luft sprang. Die Zuckungen wurden immer heftiger und mittlerweile atmete sie röchelnd. Wenn sie bei jeder Art des Kontaktes nur noch schlimmer litt, wie sollte ich ihr helfen?
Der erstickte Laut, den sie in diesem Moment von sich gab, und die roten Flecken, die sich über ihr Gesicht und Dekolleté ausbreiteten, veränderten meine Herangehensweise. Was, wenn sie vor meinen Augen starb?
"Sam, wach auf... Sam?"
Erst noch etwas zögernd, doch nach kurzer Zeit zielsicherer rüttelte ich an ihrem Oberkörper im verzweifelten Versuch, Sam zu sich kommen zu lassen. Endlich holte sie einmal tiefer als zuvor Luft und riss ihre Augen auf. Ihre Pupillen waren stark vergrößert und das sonst klare Weiß der Lederhaut war von roten Venen durchzogen. Ihr Zustand hatte sich durch das Aufwachen nicht verbessert, sondern verschlimmert.
"Sam, schau mich an."
Sie hörte mich nicht und sah weiter ins Leere, während sich ihr Oberkörper weiterhin unkontrolliert auf und ab bewegte. Ihre Luftzufuhr schien immer knapper zu werden und ich geriet in Panik.
Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.
Wie immer bei dieser einfachen Übung kam ich einigermaßen zur Ruhe.
Kann das auch Sam helfen?
"Sam? Hörst du mich? Du musst mir jetzt gehorchen, bitte. Also, atme aus, atme tief aus. Und halten. Sam? Ausatmen."
Ihr Atem war unregelmäßig, doch es schien, als hätte sie mich gehört; denn in den nächsten Momenten war sie bereits etwas langatmiger.
"Hey, das ist super! Okay, das machst du wirklich klasse, Sam. Guck mich an, ja? Guck mich an, Sam."
Ihre Augen, die zuvor wild umhergezuckten, richteten sich nun in meine Richtung. Ich wusste nicht, ob es Sam helfen würde, doch mir kam es richtig vor. Wenn sie mich sah und nicht die endlose, schwarze Leere, die ihr vermutlich in diesem Augenblick bevorstand, würde sie sich vielleicht eher beruhigen.
"So, und jetzt noch einmal. Ausatmen."
Sam atmete aus.
"Toll! Versuche jetzt, stillzuhalten. Kriegst du das hin, Sam? Bitte."
Noch immer zittrig, aber schon etwas stabiler, hielt Sam still.
"Gut, und jetzt kannst du wieder einatmen. Langsam."
Das röchelnde war aus ihrem Atem verschwunden, als sie tief Luft holte. Sam wirkte zwar schon ruhiger, doch ich war mir über ihren gesundheitlichen Status unsicher; also blieb ich noch einige Minuten mit meiner Hand auf ihrem Bauch neben meiner Mitbewohnerin sitzen, während ihr Atem sich wieder in den normalen Rhythmus einpendelte.
Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.
Es war ungewöhnlich viel Stress für einen Tag gewesen, doch ich hatte es irgendwie geschafft.
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Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓
General Fiction••• THE WATTYS 2018 GEWINNER IN "THE CONTEMPORARIES" ••• TEIL 1 DER BLUMENSTRAUß-TETRALOGIE »Schwere Depressionen, Zwangsneurose, starke Angststörungen und psychotische Symptome.« Das ist die Diagnose, die Scarletts Leben verändert. Als ihr offenbar...