Die Sportstunde war der pure Horror.
Zuerst wurden wir angewiesen, uns aufzuwärmen, doch bereits nach dreißig Sekunden wurde mir übel und ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment auf den rotkörnigen Untergrund übergeben zu müssen. Gerade als ich begann mich zu fühlen, als wären meine Gliedmaßen abgestorben und handelten nur noch aus Reflex, konnten wir endlich aufhören.
Die nächste Stunde wurde mit verschiedensten Gruppensportarten gefüllt, die angeblich die Dynamik innerhalb unserer Stationsgruppe stärken sollte, wovon ich jedoch nichts bemerkte. Die anderen schienen ihre Freude an der ganzen Sache zu haben, doch ich hatte nur das Gefühl, langsam von innen nach außen auszutrocknen. Nicht nur die Sonne oder meine fehlende Ausdauer waren dafür verantwortlich, sondern auch meine Gedanken, die immer wieder an falsche Orte abdrifteten.
Was soll das alles eigentlich bringen?
Dieses ganze Theater mit der Gruppendynamik und ähnlichen Therapien...
Wie sollte mir dadurch geholfen werden?
Ich bin ein Nichtsnutz.
Ich habe nichts Besonderes an mir.
Ich bin einfach langweilig und schrecklich.
Oder doch schlichtweg schrecklich langweilig?
Abwesend und uninteressiert beobachtete ich das Spiel, das sich gerade vor mir ereignete. Sam, Evelyn, Fay und Rose gegen Garrett, Ozzy, Arlene und mich. Gerade war eine Eigeninterpretation Völkerballs an der Reihe der vielen Sportarten, die wir bereits abgeklappert hatten, doch meine Beteiligung am Spielgeschehen hielt sich eher in Grenzen. Die meiste Zeit verbrachte ich in einer rechts hinten im Feld liegenden Ecke, in der ich mich zwischen den eingrenzenden und hoch aufragenden Gitterzäunen deutlich sicherer fühlte als auf dem offenen Sportplatz. Aber ich war auch gefangen.
Die rostig angelaufenen Gitterwände, die mich von zwei Seiten direkt umgaben, symbolisierten so viel mehr für mich als nur aneinandergereihte Stahlstäbe. Es war nicht einfach nur die Abgrenzung vom Sportfeld zum Rest des Klinikgelände; sondern auch eine für mich momentan unüberwindbar wirkende Grenze zur gesamten Außenwelt, die hinter diesen Gitterstäbe auf mich lauerte – mit all ihren Tücken und Lügen, den Intrigen und Gemeinheiten, vor denen ich mich so sehr fürchtete; doch sogar das wirkte einladender auf mich als der Sportunterricht, in dem ich mich gerade wider Willen befand und den ich noch viel zu lange aussitzen musste.
Die Zukunft ängstigte mich. Was würde passieren, wenn ich es tatsächlich eines fernen Tages schaffen würde, aus dieser Anstalt zu entfliehen? Wäre ich eigentlich wirklich gesund? Vielleicht nur teilweise? Oder sogar in einem noch schlimmeren Zustand als zuvor, traumatisiert von der Klinik und ihren Behandlungsmethoden?
Meine Fantasie begann mir einmal mehr, Streiche zu spielen. Ich war hier schließlich nicht in einem schlecht gemachten Horrorfilm gelandet.
Aber ist mein Leben nicht ein schlecht gemachter Horrorfilm?
Gewisse Ähnlichkeiten waren jedenfalls vorhanden.
»Komm Scarlett, mach doch mal mit und steh nich' nur in der Ecke rum!«, brüllte mir Ozzy von der gegenüberliegenden Seite des Platzes zu. Er schien einer von diesen Menschen zu sein, die das Spielerlebnis durch ihren krankhaften Ehrgeiz und ihrem peniblen Streben nach dem Sieg für jeden zerstörten. Nicht, dass ich gerade ein richtiges Spielerlebnis hatte, doch die anderen Patienten, die zuvor noch mit Spaß bei der Sache gewesen waren, schienen nun immer genervter von Ozzys Dominanz, mit der er penetrant gegen jeden vorging, der nicht auf seiner Seite war. Evelyn hatte schon mehrere rotangelaufene Stellen an Armen und Beinen, an denen er sie absichtlich mit Bällen beworfen hatte, um sie außer Gefecht zu setzen.
Das brachte meine Gedanken auf einen Vorfall, der sich heute Morgen nach dem Frühstück ereignet hatte. Herr Hart erzählte uns, dass Frau Henning, meine Therapeutin und Leiterin der Gruppenseminare und -therapien, für heute leider verhindert sei und daher keine Gruppentherapie stattfinden könne. Daraufhin hatten sich die Mädchen beschwert, da sie eigentlich geplant hatten, ein offensichtliches Problem in der Gruppe anzusprechen; Ozzy wäre immer wieder ausfällig geworden und hätte jede Einzelne von ihnen mehrfach beleidigt und unter anderem mit Edding massakriert. Damals schienen mir diese Äußerungen noch etwas überzogen, doch mittlerweile konnte ich sie nachvollziehen und Verständnis für die Mädchen aufbringen.
Der Zwölfjährige war schlicht und einfach nervig; auch wenn es mir innerlich weh tat, es so offen zu denken. Er schien Freude daran zu haben, anderen Schaden zuzufügen, was ich beim besten Willen einfach nicht nachvollziehen konnte. Über seinen Hintergrund oder die Diagnose, die ihn in die Klinik gebracht hatte, wusste ich nichts, doch ich konnte es mir eigentlich schon denken. Niemand mit gesundem Menschenverstand würde es länger als zehn Minuten allein mit Ozzy in einem Raum aushalten.
Im Laufe des Nachmittags hatte ich außerdem am eigenen Leibe erfahren müssen, wie er seine augenscheinliche Hyperaktivität und Wut austarierte; der Junge spielte Schlagzeug, wobei ›spielen‹ wohl noch die falsche Umschreibung war für den Lärm, den Ozzy durch ein improvisiertes Instrument aus Schranktüren und Metallscheiben fabrizierte. Aufgrund seines lärmbelastenden Hobbys hatte er das Zusatzzimmer bekommen, welches hinter den Toiletten am abgelegensten Ort der Station lag, was die Geräuschkulisse allerdings nur minimal angenehmer machte.
Meine Kopfschmerzen waren durch seine selbstproduzierte Musik ins Unermessliche gestiegen und bemerkte auch den zunehmenden Unmut der anderen, doch er ließ sich einfach nicht beirren und schlug sogar noch lauter auf sein Schlagzeug ein.
Ozzy ist ein Egoist.
»Pass auf, der Ball!«
Ein lauter Schrei, der von Herrn Bennett zu kommen schien, ließ mich zusammenfahren und ich drehte mich zur Geräuschquelle um. Das letzte, was ich sah, war ein roter Ball, der in gefühlter Lichtgeschwindigkeit auf mich zuraste.
Ein rascher und dumpfer Aufprall, dann war alles rot.
Die Farbe des Balls schien wie in mein Gedächtnis eingebrannt.
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Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓
General Fiction••• THE WATTYS 2018 GEWINNER IN "THE CONTEMPORARIES" ••• TEIL 1 DER BLUMENSTRAUß-TETRALOGIE »Schwere Depressionen, Zwangsneurose, starke Angststörungen und psychotische Symptome.« Das ist die Diagnose, die Scarletts Leben verändert. Als ihr offenbar...