Kapitel 27

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"Sam?"

"J- Ja?"

"Was war das?"

Es waren mittlerweile ungezählte Minuten vergangen, seitdem Sam aus ihrem Zustand erwacht war, doch sie wirkte noch immer sehr unsicher und zittrig. Anstatt wie sonst mit dem für sie üblichen triefenden Sarkasmus zu antworten, schloss sie ihre Augen und atmete kräftig ein und aus, um sich daraufhin aufzustützen und gerade auf das Bett zu setzen. Da sie sich mit dem Rücken an die Wand anlehnte und somit auf mich herabschauen musste, fühlte ich mich sofort unwohl, richtete mich ebenfalls aus meiner hockenden Position auf und setzte mich auf ihren Schreibtischstuhl, der direkt neben ihrem Bett stand und einen Berg an Kleidung auf sich stapelte.

"Du musst es mir nicht sagen. Im Regelwerk habe ich gelesen, dass wir untereinander nicht über unsere Erkrankungen reden dürfen un-"

"Quatsch, die beschissenen Regeln hier gehen mir an meinem knackigen Arsch vorbei. Du kannst ruhig wissen, was mit mir los; nur rede mit keinem ander'n drüber."

"Versprochen."

"Musste nich' machen, ich vertrau dir auch so. Wirkst vertrauenswürdig, und aufgrund meiner übertreffend genialen Menschenkenntnis lass' ich mich mal drauf ein."

Da war sie wieder, die Sam, die ich kennengelernt hatte. Aus ihrer Reaktion und Redensweise schloss ich, dass es ihr schon etwas besser ging; trotzdem achtete ich sorgsam auf meine Wortwahl, als ich wieder mit dem Reden begann.

"Also, dein ganzer Körper hat ... naja, gezuckt? Was ist da genau passiert? Ich hatte leider überhaupt keine Ahnung, was ich hätte anders tun sollen. Tut mir Leid, falls ich falsch gehandelt habe."

"Ohne dich wär' ich wohl erstickt, also kannste gar nich' so viele Fehler gemacht haben, schätz' ich. Ehrlich gesagt habe ich einen Epianfall noch nie so gut und schnell überstanden."

Epi-Anfall?

"Was ist das? Ein 'Epi-Anfall', meine ich."

"Epilepsie, Letty, das ist Epilepsie. Ganz schön beschissen, nich' wahr?"

Epilepsie.

Ich hatte schon davon gehört, doch es hautnah zu erleben war etwas komplett anderes.

"Das hatte ich mir irgendwie, wie soll ich das sagen, anders vorgestellt."

"Jup, die meisten Außenstehenden und Nichtbetroffenen haben eigentlich keine Ahnung davon. War bei mir genauso, bis es vor ein paar Jahren anfing. Damals muss ich zwölf gewesen sein. Anfangs war es nur tagsüber, doch dann kamen die Anfälle auch nachts. Für 'ne Zeit lang musste ich sogar in so 'ne Art Schlafzelle, wo ich mit Kameras und so 'nem Mist überwacht worden bin. Bei 'nem Notfall sind dann fünf Ärzte reingestürmt und haben mich betatscht."

"Gibt es da eine Art Auslöser für deine Anfälle? Etwas, das dich belastet?"

"Ja."

Oh. Ich schien einen wunden Punkt getroffen zu haben, von dem ich mich so schnell es ging entfernen wollte. Seit Monaten war Sam das einzige Mädchen meines Alters, das überhaupt mit mir sprach; das wollte ich nicht zerstören.

"Tut mir Leid."

"Verdammte Scheisse Letty!"

Was hatte ich jetzt falsch gemacht?

Mein Herz begann zu rasen und ich fühlte meinen Puls steigen, wobei mir die Röte ins blasse Gesicht schoss. Das durfte nicht wahr sein.

Warum war ich nur so eine soziale Sonderheit?

Warum sagte ich immer genau das falsche?

Warum?

"Hör einfach auf, dich die ganze Zeit zu entschuldigen, okay Kleine?"

Während sie mir das in höchst sarkastischen Tönen und mit glühenden Wangen vorwarf, schien sie sich innerlich wunderbar über mich zu amüsieren.

"Wirklich schön, dass du Spaß beim Traumatisieren meiner Seele und dem Beschleunigen meines Herzschlags hast, Samantha."

Das Lächeln war augenblicklich aus ihrem Gesicht geblasen und nun kam ich an die Reihe, sie schelmisch anzufeixen. Es machte Spaß, einfach ohne große Hintergedanken oder Sorgen mit jemandem zu reden, Witze auf die Kosten des anderen zu reißen und zu wissen, dass dieser es nicht persönlich nehmen würde.
Es war das erste Mal in meinem Leben, das eine so unscheinbare, aber gleichzeitig unglaublich wertvolle Erinnerung einen Platz in meinem Kopf fand. Ihre Gesellschaft dort oben bestand aus Knigge- und sonstigen Benimmregeln, die mir meine Eltern von früh auf eingeflößt hatten, um auf die Nachbarn keinen schlechten Eindruck zu machen; verschwommenen Panikattacken und dem Schmerz der Selbstverletzung; Schlägen und Schreien von den Seiten meines Großvaters und zuletzt der großen Dunkelheit, die mich jederzeit umgab.

Außer jetzt.

Denn gegenüber von mir saß Sam, die meine gedankliche Abwesenheit zu bemerken schien und sich wieder in ihr ernstes Selbst verwandelte, das ich so selten zu Gesicht bekam.

"Du solltest über deine Probleme reden, Lettchen."

"Lettchen? Das wird ja immer schlimmer."

"Lenk nich' vom Thema ab, denn ich meine es ausnahmsweise ernst. Du bist noch viel schlechter dran als ich."

"Woran siehst du das?"

"Daran, dass du nich' mal versuchst, diese Tatsache zu bestreiten oder sie nur anzuzweifeln."

Sie hatte Recht.

"Außerdem siehst du gerade echt scheisse aus, sorry, dass ich es so formuliere."

"Vielen Dank, aber das mag auch daran liegen, dass ich deinen Tod befürchten musste."

"Sorry dafür, kann ja den Besten mal passieren. Sorgen machen solltest du dir glaub' ich aber erst, wenn ich anfange zu japsen oder zu sabbern. Hab' ich gesabbert? Bitte sag nein, das wär' doch echt 'n anstößiger erster Eindruck von deiner Mitbewohnerin."

"Naja, ein bisschen vielleicht."

"Mist."

"Nicht schlimm."

"Ja doch, es is' nämlich auf meinem Kopfkissen. Guck mal."

Das war der Moment, in dem das Eis endgültig brach und wir in amüsiertes Gelächter ausbrachen, wobei Sam wie ein Vulkan losbrüllte und ich neben ihr mit meiner vors Gesicht gehaltenen Hand und dem schüchternen Schmunzeln eher ein kleines, fast ausgebranntes Streichholz darstellte. Doch auch, wenn ich mich noch nicht zu einem lauten Lacher überwinden konnte, hatte ich wirkliche und wahrhaftige Freude an diesem Moment, der sich sogleich neben meine vorherige positive Erinnerung mit Sam gesellte.

Es war schlicht und schön, einfach hier mit Sam zu sitzen und einen kurzen Moment des Glücks zu genießen, bevor die Dunkelheit ihren Weg zurück in mein Leben fand.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt