Kapitel 4

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Sobald ich aus dem Büro getreten und die Tür hinter mir in den Rahmen gefallen war, hätte ich mich am liebsten zu Hause in meinem Bett verkrochen, doch während ich mich in diesem Gedanken sonnte, wurde ich von einer näselnden Stimme direkt neben mir unterbrochen.

»Du bist Scarlett, nicht wahr? Mein Name ist Herr Perkins und ich bin dein zweiter Bezugsbetreuer, da deine vorrangige Bezugsbetreuerin gerade im Urlaub ist«, quasselte dieser vor sich hin, wobei ich ihn mit müden Augen von oben bis unten durchscannte.

Er war nicht sonderlich groß, höchstens 1,75m, und machte auch sonst einen recht gedrungenen Eindruck, welcher durch seinen braunen Pulli mit waagerechten roten Streifen nur noch verstärkt wurde. Eigentlich wirkte er sehr nett, doch ich hatte nicht die Energie, sein leicht übertriebenes Lächeln zu erwidern, und starrte ihn daher nur weiterhin mit meinem gewohnten, stumpfen Blick in die braunen Augen, die durch seine schmale Brille riesig wirkten. Sein Gesamtbild erinnerte mich ein wenig an einen Maulwurf.

Einen braunen Maulwurf mit roten Streifen.

Sobald er bemerkte, dass ich ihn nicht zurückgrüßen würde und auch sonst keine Reaktion auf seine Worte zeigte, trübte sich sein Lächeln ein wenig, doch er erhielt es trotzdem tapfer aufrecht, als er sich umdrehte und einfach losmarschierte, meinen Koffer hielt er in der Hand. Ich machte mir Sorgen, dass er unter dem Gewicht einfach zusammenklappen würde, doch er schien stärker zu sein, als ich es von ihm erwartet hätte. Da er anscheinend davon ausging, dass ich direkt hinter ihm war und auf Schritt und Tritt folgte, setzte ich mich langsam in Bewegung, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, um bloß nicht umzufallen. Das brauchte ich gerade wirklich nicht.

Das Klinikgebäude war größer, als es auf den ersten Blick von vorne wirkte, wenn man auf dem Gelände stand und zum Haupteingang blickte, der fast schon versteckt war von Eschen, die in ihrer vollen Pracht erblühten, den Blick auf den Rest des Gebäudes verdeckten und den Gehweg davor mit ihren herunterfallenden Früchten kleideten. Herr Perkins bewegte sich mit weit ausgestreckten Armen, damit er nicht über mein Gepäck stolperte, und drehte sich kein einziges Mal nach mir um, während er die Gänge entlangtrottete. Das verwunderte mich doch ziemlich.

Was, wenn ich jetzt einfach abhaue? Vermutlich würde er es nicht einmal bemerken, bis er bei der Station angekommen war.

Ich musste fast schon innerlich lächeln bei der Vorstellung, doch dann besann ich mich wieder auf meine aktuelle Situation. Ich war in einer psychiatrischen Klinik, verdammt. Hier war nicht der richtige Ort zum Lachen. Für mich schien dieser Ort allerdings nirgendwo zu existieren.

Dann auf einmal geschah jedoch das Unglaubliche; Herr Perkins drehte sich tatsächlich um und blieb stehen. Das Lächeln hatte er allerdings noch immer auf sein Gesicht gepinselt, fast schon wie antrainiert. Wahrscheinlich war das auch der Fall.

»Hier sind wir im Stationstrakt angekommen. Wie du sehen kannst, ist der recht lang, aber keine Sorge; wir sind gleich da«, erzählte er mir und kicherte über seinen schlechten Scherz. Doch anstatt mich darüber zu wundern, sah ich mich etwas um.

Die Wände des Flurs waren aus Backstein und alle paar Meter hingen Bilder, die vermutlich von Patienten gemalt wurden. Der Boden bestand aus großen, dunklen Fließen, was mich keineswegs störte. Ich mochte Dunkelheit und die Gemütlichkeit, die damit kam. Trotzdem fühlte ich mich nicht wirklich wohl, da der Flur tatsächlich ziemlich lang war und große Räume mir Angst bereiteten. Über den Flur verteilt sah ich sechs Abzweigungen, eine pro Station, von denen sich jeweils zwei gegenüber waren. Das waren dann die Partnerstationen, vermutete ich.

Wir gingen die ersten paar Meter, bis wir an die ersten beiden Abzweigungen kamen. Herr Perkins blieb kurz stehen, also tat ich es ihm nach

»Ich zeige dir hier erst einmal den groben Aufbau, okay? Also, hier befinden sich die ersten beiden Stationen, und zwar Uranus auf deiner Rechten und Neptun auf deiner Linken.«

Durch je ein großflächiges Fenster konnte man in eine Art kleines Büro blicken, in dem sich verschiedene Betreuer befanden, die gerade Kaffee tranken, mit einem Computer, der in einer Ecke des Raumes stand, beschäftigt waren oder sich leise unterhielten. Wenn ich mich anstrengen würde, hätte ich auch noch die Möglichkeit haben können, in die Stationen zu linsen, doch daran hatte ich kein Interesse. Ich würde das Innenleben und die Abläufe schon noch früh genug am eigenen Leibe erfahren.

»Neptun? Vielleicht irre ich mich, aber Frau Hendel hat diese Station bei meiner Aufnahme gerade eben nicht erwähnt?«, fragte ich ihn verwirrt, während ich das Gespräch so gut es ging rekonstruierte, was sich durch meine fehlende Aufmerksamkeit währenddessen als schwierige Aufgabe entpuppte.

»Das hat sie nicht? Hm, merkwürdig. Ich werde sie später mal fragen, aber erst einmal erzähle ich dir das Gröbste. Neptun ist unsere Notfallstation. Dort kommen die Fälle hin, die sich oder anderen während ihres Aufenthalts etwas angetan haben oder diejenigen, die uns von außerhalb eingeliefert werden, aufgrund eines Selbstmordversuches oder so was in der Art.«

Er sagte das so leicht vor sich hin, als rede er über das Wetter oder was er zum Frühstück gegessen hatte, doch mir lief bei seinen Worten ein Schauer über den Rücken. Fast wäre ich damals auch hier gelandet.

»Die Station wird geschlossen geführt, das heißt, dass niemand ohne einen Schlüssel rein- oder rausgehen darf. Außerdem bleiben die Patienten oft nur ein paar Tage, allerhöchstens zwei Wochen auf Neptun, bis das Risiko so weit gesenkt wurde, dass man sie wieder mit anderen Patienten zusammentun kann. Dann werden sie in den meisten Fällen auf eine andere Station verlegt. Komm, die restlichen zeige ich dir auch noch«, versuchte er mich mit munterer Stimme aufzufordern, und ich schlurfte ihm einfach hinterher, während er den Gang entlangschritt. Allein das Stehen von vorhin war schon zu viel für meinen Kreislauf gewesen und ich hatte das Gefühl, gleich zusammenzubrechen, doch ich schluckte es runter. Nicht hier, nicht jetzt.

Noch einmal atmete ich tief durch und ging neben Herrn Perkins her, bis er wieder stehen blieb und sich mir zuwandte.

»So, hier wären wir auch schon bei deinem neuen Zuhause für die nächsten Monate angekommen«, eröffnete er mir, während er mit der Hand nach rechts zeigte. »Hier links ist Saturn und wenn du den Flur nach hinten verfolgst, gelangst du links zu der Mädchenstation Venus und rechts zu der Jungsstation Merkur. Aber den Gang erspare ich dir jetzt lieber, denn du wirkst ziemlich erschöpft. Das bist du doch auch, nicht wahr?«

Anstatt eine Antwort zu geben, nickte ich einfach leicht und ließ mich von Herrn Perkins durch eine rotbraune Tür geleiten. Mein erster Blick fiel auf einen großen, ovalen Esstisch mit zehn Stühlen, der in der ersten Hälfte des offenen Raumes stand. Hinter einem Aquarium, das daneben als eine Art Raumtrenner fungierte, erspähte ich ein rotes Sofa, einen niedrigen Couchtisch und bunt zusammengewürfelte Sessel in den verschiedensten Mustern und Farben. Als ich jedoch ein Gesicht hinter dem verschleiernden Wasser des Aquariums ausmachte, das mich eindeutig beobachtete, wandte ich so schnell wie möglich meinen Blick ab und richtete ihn auf den Boden.

Gleichzeitig versuchte ich verzweifelt, irgendwie die Tränen zurückzuhalten, die sich in meinen Augen bildeten und mir die Sicht einschränkten, wobei ich jedoch kläglich scheiterte. Nur Sekundenbruchteile danach spürte ich die bekannte Nässe auf meinen Wangen und wie meine Knie zittrig wurden.

Alle Beruhigungsübungen, alle Atemtechniken waren vergessen, als ich durch die schwere Dämmerung, die sich über mein Bewusstsein legte, sah, wie Schatten auf mich zukamen und mich zu verschlingen drohten.

Wahrscheinlich war es nur ein Betreuer, doch in diesem Moment gewann die Panik, die ich den gesamten Vormittag schon zu unterdrücken versuchte, endgültig die Oberhand und ich ließ mich fallen. Ich fiel und fiel; in ein Loch aus Dunkelheit, Schreien, Verzweiflung und dem Geschmack von Blut und Fäule auf meinen Lippen.

Hatte ich mich übergeben?

Ich wusste es nicht. Ich wollte es nicht. Ich fühlte es nicht.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt