Kapitel 53

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"Was habt ihr beiden denn da drinnen gemacht und warum habt ihr euch nicht früher gemeldet?", wollte Herr Bennett von mir wissen, während er uns in den Gemeinschaftsraum begleitete und wir prüfende Blicke über uns ergehen lassen mussten.

Aus dem Augenwinkel erspähte ich Evelyn, die sich bei dieser Frage direkt versteifte und mich wortlos anflehte, ja nichts zu sagen. Ich schwieg und ignorierte Herr Bennets verwirrtes Nachhaken; umso erleichterter war ich, als der Essbereich endlich in Sichtweite rückte und ich von dem unangenehmen Wortwechsel mit dem Betreuer entbunden wurde. Hastig huschte ich zu meinem Platz und ließ mich auf ihm nieder, doch Evelyn verharrte auf einer Stelle und schien nach einigen Sekunden beinahe wie festgefroren. Ihre mit Tränenflüssigkeit benetzten Augen waren starr auf den Boden vor ihr gerichtet und ihre Hände, die unter den weiten Krempeln meines Pullovers nur schemenhaft zu erkennen waren, schienen sich vollkommen verkrampft zu haben.

Von ihrem inneren Kampf bekam jedoch keiner etwas mit, denn die meisten hatten sich bereits in Tischgespräche vertieft oder waren zu sehr mit sich und ihren eigenen Gedanken beschäftigt, als dass sie sich mit der Situation einer anderen Patientin befassen könnten.

Vorsichtig lächelte ich Evelyn zu, in der Hoffnung, sie somit zum Kommen anzuregen. Es klappte.

Mit klamm an ihren Körper gedrückten Armen schritt sie auf den Esstisch zu und ließ sich auf ihren Sitzplatz neben mir nieder. Auf Außenstehende mochte dies alltäglich und geradezu unwichtig erschienen sein, doch besonders jetzt, da sie neben mir saß, bemerkte ich das Zittern, welches sich über ihren gesamten Körper ausgebreitet hatte und sie vollkommen beschlagnahmte. Unbemerkt von unseren Mitmenschen legte ich meine blasse Hand auf Evelyns kalkweiße, verkrampfte Faust, die sie unter dem Tisch zu verbergen versuchte, und lächelte sie erneut ermutigend an. Zaghaft erwiderte sie meine Geste und ihre spröden Mundwinkel hoben sich langsam zu einem Lächeln, das jedoch nicht ihre Augen erreichte. Hoffentlich stabilisierte sich ihr körperlicher und im Besonderen ihr geistiger Zustand bald wieder, sodass ich nicht jede Sekunde damit verbrachte, mir Gedanken darum zu machen ob sie wohl in Ohnmacht fallen oder sich erneut etwas antun würde. Sie hatte mir in den Toilettenräumen zwar geschworen, dass sie nicht sterben wollte, als sie sich geritzt hatte, doch es war nicht gesagt, dass sich dieser Zustand in den nächsten Minuten, Stunden, Tagen oder Wochen nicht noch ändern wurde.

Allein bei dem Gedanken wurde ich nervös und mein Herz begann wie wild zu klopfen, als wollte es mich auf etwas aufmerksam machen. War es richtig von mir gewesen, Herrn Bennett und den anderen nichts von Evelyns Zusammenbruch zu erzählen? Was würde geschehen, wenn sie sich demnächst umbrachte? Trug ich dann die Schuld an ihrem Tod? Sollte ich mich vielleicht doch jemandem anvertrauen und so vielleicht ihr Leben retten, anstatt einfach nur tatenlos neben ihr zu stehen und geradezu abzuwarten, dass ihr erneut etwas geschah?

Nein, das konnte ich nicht tun. Das durfte ich einfach nicht. Evelyn vertraute mir und ich hatte ihr versprochen, unser gemeinsames Geheimnis zu bewahren. Doch was wäre, wenn?

"So, liebe Leute. Heute gibt es unter anderem Lasagne; wer hat was bestellt?"

"Kannst du mir mal den Apfelsaft rüberreichen?"

"Meine Güte, Ozzy! Nimm die Finger von meinem Teller!"

Die nächsten Minuten waren erfüllt vom alltäglichen Gelärm und der Geräuschkulisse unserer Mitbewohner und Betreuer, doch Evelyn und ich waren wie Ausgeschlossene. Kein Wort sprachen wir, während die anderen sich über ihren Tag ausließen, gemeinsam Pläne für den kommenden Nachmittag schmiedeten und hin und wieder miteinander lachten.

Wir lachten nicht.

"Herr Bennett, ich kriege die Verpackung nicht auf", zeterte Osborn und rüttelte währenddessen an einer verschweißten Käsepackung, die durch die verstärkte Naht nur schwer zu öffnen war.

"Einen Moment, ich hole kurz ein Messer", meinte Herr Bennett daraufhin geschäftig, stand auf und hantierte in der Küche, bis er mit einer blitzenden Klinge zurückkehrte. "Gib mal her, Ozzy."

Kaum hatte dieser seiner Bitte Folge geleistet und ihm die Packung überreicht, setzte der Betreuer zum Schnitt an, schrie jedoch Sekundenbruchteile später laut auf, was alle schreckhaften Anwesenden zusammenzucken ließ.

"Verdammte Sch-", schimpfte Herr Bennett, unterbrach sich jedoch schnell und drehte sich von den Beteiligten weg; vermutlich tat er dies, um die Flüche, die ihm in diesem Moment durch den Kopf schwirrten, wenigstens stumm ausschreien zu können, ohne sich den Ruf eines schlechten Vorbilds zu verdienen.

"Oh, Sebastian! Bist du in Ordnung?" rief Frau Foxworth geschockt und sprang von ihrem Sitzplatz auf, um zu ihrem Kollegen zu eilen.

Währenddessen saßen alle Jugendlichen am Tisch und starrten sich sprachlos an; niemand wusste, was er nun tun oder sagen sollte.

"Kann ich weiteressen?"

"Halt die Klappe, Ozzy."

Allmählich wandten sich alle Beteiligten wieder ihren Gesprächen zu, doch ich hörte mit halbem Ohr das Gespräch der Betreuer mit.

"Ist nur ein kleiner Schnitt. Tief, aber klein. Das ist kein Problem."

"Sicher? Es könnte sich entzünden. Soll ich es dir schnell verbinden?"

"Hm..."

"Na komm schon, gib dir einen Ruck. Auch Männer haben Schmerzen, Sebastian. Selbst so einer wie du."

"In Ordnung. Aber nur, weil du es bist."

Flirteten die beiden miteinander?

Neben den Patienten, die sie eigentlich betreuen sollten?

Während einer von ihnen stark blutete und den Boden mit seinem Blut befleckte?

Was fand ein Mann wie Herr Bennett an einer waschechten, bitteren Zimtzicke wie Frau Foxworth? Ich verstand die Welt nicht mehr.

"So, gleich haben wir's", rief Frau Foxworth aus dem Betreuerbüro und kehrte mit einem mir nur allzu gut bekannten Koffer wieder in den Gemeinschaftsraum zurück. "Seid ihr alle mit dem Essen fertig? Dann könnt ihr jetzt abräumen und die Essensreste auf den Küchentisch stellen, ja?"

Seit wann war Frau Foxworth so freundlich zu uns Patienten? Jetzt fehlte nur noch, dass sie uns allen ein Eis kaufte und lustige Anekdoten aus ihrer Kindheit mit der Gruppe teilte.

Versunken in meinen Gedanken und immer wieder auf Evelyn schielend, die sich zwar leicht schwankend, aber dennoch einigermaßen stabil ihren Weg zur Küche bahnte, achtete ich nicht mehr auf die beiden Erwachsenen in meinem Rücken, bis mich eine laute, schrille Stimme in meinem gemächlichen Treiben unterbrach.

"Wo zum Henker sind die Verbandsmaterialien?"

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt