Kapitel 69

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Wenige Minuten später rappelten wir uns auf, um unsere Wege zurück zu unseren Stationen anzutreten. Nur widerwillig setzte ich einen Fuß vor den anderen, doch die Klinikvorschriften verboten mir, mich länger als eine halbe Stunde am Stück draußen aufzuhalten. In der Freiheit.

Neben mir ging Flint schon deutlich sicherer als auf unserem Hinweg, was mich ungemein erleichterte. Dass es ihm besser ging, deutete ich als ein gutes Omen für mich. Hoffentlich würde ich mich nie wieder dermaßen verlieren wie nach Sams Tod. Das würde ich nicht aushalten und letztendlich daran zerbrechen, dessen war ich mir sicher.

"Ich glaube, dass ich genau das hier brauche", warf Flint in den Raum, nachdem wir uns gerade erst den Weg durchs Dickicht freigekämpft hatten und auf den Kieselweg trafen. "Mit jemandem zu reden und nicht darüber nachdenken zu müssen, was das Gegenüber von mir denkt oder als was es mich abstempeln könnte. Obwohl ich es natürlich vorziehen würde, wenn du mich einigermaßen erträglich findest."

Er schielte schelmisch zu mir, was mich zum Lachen brachte und ihm eine Art der Genugtuung zu bereiten schien. Noch immer gluckste ich amüsiert, als wir den Wald hinter uns ließen und auf die Wiese traten, wo uns sofort ein kühler Herbstwind ergriff. Meine Haare flogen in alle Himmelsrichtungen, doch statt mich um mein Aussehen zu kümmern und meine Frisur zu richten, genoss ich die Winde, die an mir zerrten und die vollkommene Kontrolle über meinen Körper gewannen, der im Vergleich zu den mächtigen Bäumen, deren Kronen durch den Umschwung zitterten, und den Gewitterwolken über uns so klein und zerbrechlich wirkte.

Voller plötzlicher Unbeschwertheit durch den Wetterwechsel drehte ich mich tänzelnd um und erkannte Flint, der einige Meter entfernt stehengeblieben war und mich betrachtete, wie ich das Unwetter genoss. Obwohl ich nicht sonderlich warm angezogen war, fror ich nicht, sondern fühlte mich geborgener als im hellsten und fröhlichsten Sommersonnenschein.

"Du bist ganz schön merkwürdig, weißt du das?", schrie er über die Geräusche der Natur hinweg und lachte herzlich, woraufhin ich in sein Gelächter einstieg.

Hier standen wir, mitten auf einer Wiese, umgeben von einem sich ankündigenden Gewitter, und lachten uns die Seele aus dem Leib. Noch nie hatte ich mich so leicht gefühlt.

Nur wenige Sekunden später fielen die ersten Regentropfen auf mein Gesicht, das ich gen Himmel gerichtet hatte, woraufhin ein wahrer Sturm begann. Binnen weniger Augenblicke prasselte Wasser auf uns herab, als ständen wir unter einer Regendusche. Meine Haare klebten an meinen Wangen und schon bald war ich vollkommen durchnässt. Ich störte mich nicht daran, doch mit einem Fingerzeig auf meine Armbanduhr erinnerte mich Flint daran, dass wir rechtzeitig zu unseren Stationen kommen mussten, um uns keine Verwarnungen oder schlimmeres einzuhandeln. Hastig ergriff er meinen linken Oberarm und führte mich die Hauptstraße entlang, von der durch die dichten Regenfäden kaum etwas zu erkennen war. Selten hatte ich so ein Gewitter erlebt, doch ich liebte es, auch wenn ich gezwungen war, mich schon bald auf meine Klinikstation zurückzuziehen.

Alle Möglichkeiten, sich unterzustellen, ließen wir aus und liefen durch den Regen, auch wenn sich meine unausgeprägte Ausdauer immer wieder meldete. Doch das Seitenstechen blieb aus und so rannten wir weiter, bis ich die Schemen des rotgepflasterten Wegs erkannte, der zu den verschiedenen Klinikstationen führte.

Ich wollte nicht in die beheizten und beleuchteten Räume meiner Station zurückkehren, sondern hier in der kalten und dunklen Natur bleiben. Sie war real und ließ mich etwas fühlen, anstatt die anderen Patienten und mich in eine Klinikblase zu hüllen, die den Austritt in die echte Welt nur noch schwerer machte.

"Wir haben noch genau zwei Minuten", rief Flint vor mir, nachdem er einen kurzen Blick auf eine Uhr an der Außenmauer geworfen hatte.

"Ich könnte auch einfach sagen, meine Armbanduhr sei stehengeblieben und ich hätte es nicht gemerkt, scherzte ich sarkastisch und setzte mich auf die Stufen eines gegenüberliegenden Gebäudes.

Sie waren nass, doch das kümmerte mich mittlerweile nicht mehr, da es so oder so keinen Unterschied mehr machen würde. Ich war komplett durchnässt, ob ich nun stand oder saß. So dachte wohl auch Flint, der sich neben mir niederließ und dabei die Arme auf seinen Oberschenkeln abstützte.

"Ob es morgen wieder regnen wird, weiß ich zwar nicht, aber ich fände es schön, wieder zu reden. Mit dir. Unter der Eiche. Am See", gestand er abgehackt und zog die Schultern ein.

Sein Oberkörper war nur von einem T-Shirt bedeckt, das mittlerweile an ihm klebte und ihm sicherlich keine Wärme mehr spenden konnte. Um ihm das unnötige Frieren zu ersparen, nickte ich und stand nach einem Blick auf die Uhr schon wieder auf.

"Jetzt muss ich gehen, schätze ich."

Beinahe überrascht blickte Flint zu mir auf und erhob sich ebenfalls, bis er mich wieder wie gewohnt überragte.

"Dann bis morgen? Sag nicht vielleicht, das hat mich das letzte Mal total verunsichert", gab er kleinlaut, aber mit einem deutlich ironischen Unterton zu und brachte mich damit ein letztes Mal zum Lachen, bevor ich mich von ihm abwandte und alleine den verbleibenden Weg zu meiner Station antrat.

"Wir sehen uns morgen Nachmittag, versprochen", rief ich noch gegen den Wind und hörte Flint hinter mir zufrieden auflachen, bevor ich die Tür zum Innenhof meiner Station öffnete und schließlich in ihr verschwand.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt