Prolog

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Sie saß auf einer Bank im Botanical Garden von San Francisco. Ihre Schwester und Eltern spazierten irgendwo umher. Sie hatte sich, wie so oft schon, zurückgezogen. Ihre Eltern und Schwester sprudelten nur so vor Energie, aber sie war schon immer der ruhige Mensch gewesen. Ihr erschien es richtig, nicht mit ihrer mäßigen Stimmung die Freude der anderen zu beeinflussen. Sie machten hier Urlaub, da sollten sie Spaß haben und sich voll und ganz gehen lassen können.

Es war April und zum Geburtstag ihrer Mutter, machte die Familie einen Ausflug nach San Francisco. Es war angenehm warm und die Sonne schien hin und wieder durch die Wolken hindurch, die entlang des Himmels zogen. Trotz der angenehmen Temperaturen fröstelte sie und rieb sich über die Oberarme, um die Gänsehaut loszuwerden.

Sie wollte nicht hier sein. Sie wollte sich in ihrem Zimmer vergraben und um ihre Großeltern trauern. Zu ihnen hatte sie immer ein besseres Verhältnis gehabt, als zu ihren Eltern. Jetzt waren sie aber nicht mehr da. Jetzt fühlte sie sich schrecklich allein.

Ihre Eltern liebten sie, umsorgten sie, wie es Eltern tun sollten, aber zu ihnen fehlte ihr einfach die Bindung. Ihre Schwester hingegen war ein Herz und eine Seele mit ihren Eltern. Keiner konnte sich erklären, wie sie so anders sein konnte, am wenigsten sie selbst, aber sie versuchte sich damit abzufinden.

Nun saß sie hier allein auf einer alten Holzbank und schaute zu dem kleinen, künstlich angelegten See und betrachtete die ruhige Wasseroberfläche. Vereinzelte Seerosen schwammen an der Seeoberfläche. Der Anblick beruhigte sie. Der See schien stetig zu sein und wirkte so klar und ruhig, wie sie sich gerne fühlen würde.

Eine Windbrise wehte durch ihr schwarz gefärbtes, kinnlanges Haar. Sie hatte sich dunkelblaue Kontaktlinsen eingesetzt. Sie wollte nicht so sein, wie sie war. Wenn man mit elf Jahren die Menschen verlor, die einem am meisten bedeuteten, dann konnte man das schwer beschreiben. Natürlich liebte sie ihre Eltern, aber ihre Großeltern, die vor drei Monaten beide kurz nacheinander gestorben waren, waren mehr ihre Bezugspersonen gewesen. Erst war Ihr Großvater an Altersschwäche gestorben und keinen Monat später auch ihre Großmutter, da sie einfach nicht ohne ihren Mann leben konnte und wollte. Wie sehr sie die beiden um ihre Liebe beneidete. Wie sehr sie die Geschichten der beiden vermisste und immer vermissen würde.

Sie zog das rechte Bein an und legte ihr Kinn auf das Knie. Die Hände schlang sie um ihr Bein, als hätte sie Angst, sonst auseinander zu fallen. Verzweifelt versuchte sie die Tränen wegzublinzeln, die ihre Sicht verschleierten. Sie wollte den See sehen und seine Ruhe auf sich wirken lassen.

Es waren Laufschritte, die sie plötzlich aus ihren trüben Gedanken rissen. Vorsichtig linste sie nach links, woher die Geräusche kamen. Hinter einem exotischen, hoch gewachsenen Strauch kam ein Junge in schwarzer Sporthose, die ihm bis zu den Knien reichte und einem grauen, ärmellosen Tanktop zum Vorschein. Seine Haare waren dunkel und kurz. Er hatte unglaublich helle Augen, aber sie schaute schnell wieder weg. Er sollte sie nicht bemerken. Sie trug schwarz, damit sie nicht auffiel. Schwarze Jeans, einen dünnen schwarzen Pullover und schwarze Sneakers.

Sie konzentrierte sich wieder auf das Wasser vor ihr und wartete, dass der Junge an ihr vorbeilief. Als er das nach 30 Sekunden immer noch nicht getan hatte, schaute sie wieder nach links. Er blickte sie an, während er seinen linken Arm vor seinem Brustkorb dehnte, indem er ihn mit seinem rechten an seinen Körper drückte.

„Denkpause?", fragte er mit einer melodischen, schon recht tiefen Stimme. Er war vielleicht ein paar Jahre älter als sie, ungefähr 14 oder 15. Sie nickte nur als Antwort. Der Junge kam auf sie zu. „Darf ich?" Er zeigte auf die Bank. Wieder ein Nicken und er setzte sich.

„Bist du von hier?" Ein Kopfschütteln. „Es lebt sich hier gar nicht so schlecht. Ich komme gern in den Park und laufe hier ein wenig, um auf andere Gedanken zu kommen." Es schien ihn nicht zu stören, dass sie nicht redete. Er übernahm das einfach.

Er sprach von den Menschen, dem Leben und allem Möglichen. Ungefähr eine halbe Stunde redete er ohne Punkt und Komma und sie fragte sich, ob er immer so ein gesprächiger Typ war oder merkte, dass es ihr nicht gut ging und er sie nur aufmuntern wollte.

„Was treibt dich nach San Francisco?", fragte er sie schließlich irgendwann.

„Urlaub mit meiner Familie", antwortete sie leise. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. „Ah, die hübsche Unbekannte kann doch reden", neckte er sie. Sie schaute zu ihm herüber und ein winziges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Irgendwie freute sie sich über das Kompliment, dass er ihr gemacht hatte.

Er legte seine Hand auf die Brust, direkt über seinem Herzen und schaute in den Himmel, während er gespielt theatralisch sagte: „Und sie kann sogar lächeln, da wird sie glatt noch schöner."

Jetzt lachte sie. Und es tat so gut. Sie hatte seit Monaten nicht mehr gelacht. Sie hatte sich seit einer Ewigkeit nicht mehr so ausgelassen gefühlt. Es hatte wohl einfach einen fremden Jungen gebraucht, der sie zum Lachen bringen musste, damit sie aus ihrer Starre erwachte.

„Danke", sagte sie und blickte wieder nach vorne, nach wie vor das Kinn auf das Knie gestützt. Wann immer sie zu ihm schaute, lag ihre rechte Wange auf ihrem Knie. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass er mit den Achseln zuckte.

„Kein Problem. Wenn du schon mal in San Francisco bist, dann darfst du nicht Trübsal blasen, sondern musst es genießen", antwortete er schlicht. „Ich gebe mir Mühe."

„Das ist nicht genug. Du musst es auch wollen, sonst bringt nichts etwas." Sprachen sie noch von ihr und ihrer Trübseligkeit? „Wenn du etwas wirklich willst, dann kannst du es schaffen, wenn du hart genug dafür arbeitest. Seien es gute Noten, später deinen Traumberuf auszuüben oder an den Olympischen Spielen teilzunehmen."

„Du willst an den Olympischen Spielen teilnehmen?", fragte sie überrascht und richtete sich auf, um sich zu ihm zu drehen.

„Oh Gott nein." Er lachte leise. „Ich werde später meine eigene Firma gründen", sagte er stolz. Sie riss die Augen auf. „Das ist dein Plan?", fragte sie erstaunt. Würde sie in drei Jahren auch wissen, was sie später einmal machen wollen würde? „Ja. Und wenn ich genug dafür tue, wird es auch geschehen und keine Wunschvorstellung bleiben."

„Du wirst das sicher packen", sagte sie und lächelte ihn an. Sie wusste nicht, warum sie sich so sicher war, dass der Junge, dem sie hier gegenübersaß, einmal seine eigene Firma leiten würde. Sie kannte noch nicht einmal seinen Namen, aber trotzdem hatte sie dieses Gefühl, dass ihr sagte, dass er hart arbeiten würde, um zu erreichen, was er erreichen wollte. Vielleicht sollte sie sich ein Beispiel an ihm nehmen, schoss es ihr durch den Kopf.

„So? Glaubst du?" Der Junge riss sie aus ihren Gedanken. Er sah ihr in die Augen, aber sie mied den direkten Augenkontakt, stattdessen fixierte sie einen Punkt hinter ihm. „Ja klar, ich mein, du hast ein Ziel. Das verfolgst du und auch wenn ich keine Ahnung habe, wer du bist, denke ich, dass du es schaffen könntest", antwortete sie ihm ehrlich.

„Hört, hört. Die hübsche Unbekannte hat Vertrauen in mich", witzelte er. „Na ja, wenn ich es mir so recht überlege...", neckte sie ihn und legte die Stirn in Falten, als würde sie noch einmal darüber nachdenken wollen. „Hey, das kannst du jetzt nicht wieder zurücknehmen." Der Junge hob dein Zeigefinger, aber ein Grinsen erschien auf seinem jungenhaften aber wirklich schönem Gesicht.

„Alles klar", lachte sie. Plötzlich stand er auf. „Ich muss leider weiter. Viel Spaß noch. Genieße den Aufenthalt hier." Er winkte ihr kurz zu und lief weiter. Nach ein paar Metern verschwand er hinter einem Baum und war so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Einige Minuten später stand auch sie auf und streckte sich. Es wurde Zeit, dass sie Ihre Eltern und Schwester suchte.

Sie kannte ihn nicht, aber es hatte unglaublich gutgetan, dass er sie ganz normal behandelt hatte. Jeder andere hatte sie in den letzten Monaten mit Samthandschuhen angefasst. Jetzt merkte sie, dass sie genau das Gegenteil gebraucht hatte. Wer auch immer er war, im Stillen danke sie dem fremden Jungen und hoffte, dass er sein Ziel erreichen würde.

Damit ging sie in die Richtung, aus der der Junge gekommen war, und suchte ihre Familie.

Reichst du mir deine HandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt