Story XII - Entscheidung

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Mit dieser Geschichte wollte ich versuchen eine klassische Kurzgeschichte zu schreiben, so wie man sie in der Schule lesen würde, wie ich damals sagte. Ich konnte diese Kurzgeschichten nie besonders leiden weil sie auf mich immer sehr aufgesetzt wirkten. So, als würden die Autoren versuchen, hinter einer pseudointellektuellen Erzählung die Tatsache zu verbergen, dass sie eigentlich nichts zu erzählen haben. Ironischerweise erscheint mir diese Geschichte heute rückblickend von allen Montagsstorys als eine der ehrlichsten.



»Ist dir das klar?«, fragte er sie.

Die Angesprochene nickte abwesend. Bestimmt war es ihr klar. War es das?

»Ich geb' dir noch ein letztes Mal zehn Minuten! Wenn du dich bis dahin nicht entschieden hast, müssen wir das leider für dich tun!«

Weg war er. Verschluckt von der Tür. Fast so, als hätte er niemals existiert. Aber er war noch da. Er wartete im Konferenzraum, wo er gerade mit dem Rest des Theaters besprach, wer welche Rolle spielen sollte.

Das wusste sie, sie, die sie einsam und verlassen hier auf der Bühne saß. Die schwarzen Sitze starrten sie an, wie eine riesige Versammlung leerer Augen. Augen, die zwar in ihre Richtung, aber auch durch sie hindurch zu blicken schienen. Taten sie das so lange, bis sie eine Entscheidung getroffen hatte?

Dabei war es eine wirklich schwierige Entscheidung! Eine Entscheidung, die sorgfältige Überlegung erforderte und sie war eigentlich in einer mehr als ungünstigen Situation, um eine solche Entscheidung zu treffen.

Die zwei Gesichter tauchten wieder vor ihrem inneren Auge auf. Auch zwischen ihnen musste sie sich entscheiden! Sie liebte eigentlich beide, aber sie konnte doch nur mit einem von ihnen zusammen sein, oder?

Aber über sie durfte sie jetzt nicht nachdenken. Das Theaterstück war wichtiger! Welche Rolle sollte sie spielen?

Diese Frage war jetzt die einzig wichtige. Das Verrückte war nur... irgendwie passten die Rollen genau zu ihren beiden Geliebten! Es war für sie... als müsste sie sich mit den Rollen auch für einen von ihnen entscheiden!

Aber das war doch Quatsch! Nein! Sie musste einfach nur eine der beiden Rollen nehmen! Es würde keinerlei Auswirkungen auf ihre Beziehungen haben!

Da war einmal Lilia, das freundliche und hilfsbereite Bauernmädchen, dass Alexander, dem Helden des Stückes dabei helfen sollte, das Herz von Königin Emilia zu erobern.

Im Verlaufe des Stückes verliebte sich Alexander allerdings schließlich in sie und ließ Emilia links liegen.

Die andere Figur, die sie spielen könnte, wäre Helen, die Mutter von Alexander, die einen sehr aufbrausenden Charakter hatte und Alexander unbedingt mit Königin Emilia zusammenbringen wollte, um damit ihrer Familie mehr Macht zu verschaffen.

Diese beiden Charaktere spiegelten fast unheimlich exakt die Charakterzüge ihrer beiden Geliebten wieder.

Mike war wie Lilia eher der ruhige Typ, der die Ziele anderer immer seinen eigenen überordnete.

Und Michael... naja... der war halt der übertrieben ehrgeizige Typ, der sich immer furchtbar darüber aufregte, wenn irgendjemand nicht hundertprozentig für seine Träume einstand.

Aber... es war ja nicht so, als würde sie mit der Rolle auch ihren Freund wählen! Nur weil sie eine Figur mit einem bestimmten Charakter gewählt hatte, bedeutete das ja nicht, dass sie diesen Charakter grundsätzlich bevorzugen würde!

Außerdem redete sie eigentlich die ganze nur um das wirkliche Thema herum! Eigentlich war die Frage doch nicht, welche von den Figuren sie lieber spielen wollte. Die Frage war, welche sie besser darstellen konnte!

Wenn sie nicht anfing, darüber nachzudenken, dann würde sie in alle Ewigkeit nur hier rumsitzen und überlegen und nie zu einem Ergebnis kommen!

Also, welche Rolle war besser?

Wenn sie Lilia spielte, dann war sie ein kleines, unschuldiges und naives Mädchen, dass einfach nur Alexander helfen wollte und der es sogar Leid tat, dass sie aus Versehen am Ende mit ihm zusammenkam.

Lilia war ja wirklich ein süßer Charakter, aber sie war halt auch naiv und eigentlich ziemlich schwer zu verstehen.

Helen hingegen war willensstark und durchsetzungsfähig, aber sie wollte allen ihren Willen aufzwingen und war leicht düster... düster...

Mit einem Mal drängte sich der dunkle, leere, kalte Raum des Theaters wieder mit aller Gewalt in ihr Bewusstsein.

Der Saal würde erst wieder hell und voll mit Menschen sein, wenn sie sich für eine Rolle entschieden hatte, das war ihr klar.

Sie seufzte schwer und der Seufzer hallte unerträglich laut in dem großen, leeren Saal. So furchtbar einsam!

Komm schon! Sie musste sich entscheiden! Beide hatten Vor- und Nachteile; gute und schlechte Seiten, aber ihre Zeit lief langsam ab.

Spontan entschied sie sich jetzt für Lilia, einfach weil sie sich ein wenig Wärme wünschte, um die Kälte des Saales zu besiegen!

Ja, sie würde Lilia spielen! Sie wollte keine machtsüchtige Jungfer sein, die ihrem eigenen Sohn vorschreiben wollte, wenn er lieben sollte und wen nicht! Sie wollte sich nicht mit dieser Rolle identifizieren müssen!

Plötzlich fiel von hinten ein greller Lichtstrahl in den Theatersaal.

Er strich über sie hinweg und verwandelte einen schmalen Streifen der schwarzen Sitze des schwarzen Saals in rote.

Der Streifen wurde immer breiter, bis die Tür schließlich an die Wand knallte und die einsame Schauspielerin sich umdrehte, um zu gucken, wer gekommen war.

Es war Mia: »Wir haben, die Rollen jetzt ohne dich verteilt! Es tut mir Leid, aber der Theaterbesitzer hat zu großen Zeitdruck gemacht! Wir mussten uns schnell entscheiden! Ich werde Lilia spielen, Julia ist Emilia und du bist Helen.«

Mia lächelte. Das Lächeln ließ der anderen Frau das Blut in den Adern gefrieren. Mia... Mia... war sie nicht früher mal mit Mike zusammen gewesen?

Montagsstorys - Eine KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt