Story XXVI - Allein

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Diese Geschichte entstand, nachdem ich eine Zeit lang ganz gerne urban legends im Internet gelesen hatte. Ich fand sie meistens zu kurz und wollte eine von ihnen nehmen und etwas mehr ausarbeiten. Das Ergebnis war dann auch nicht viel länger als die Geschichte, auf der es basierte, aber ist trotzdem handwerklich ganz gut geworden.

Sie zögerte. Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Gerade eben, vor wenigen Minuten, hatte sie ihn das erste Mal gesehen.

Und jetzt rannte sie mit ihm durch eine dunkle Gasse? Wie zur Hölle war es nur dazu gekommen?

In ihrem Kopf herrschte ein großes Chaos und sie konnte sich in diesem Moment wirklich nicht mehr erinnern! Was war nochmal passiert?

Da war dieser LKW gewesen, der ihr mindestens eine Viertelstunde lang auf der Autobahn hinterher fuhr, während der Fahrer die ganze Zeit hupte.

Sie war völlig verängstigt vor ihm weggefahren. Weiter, immer weiter weg, bis sie schließlich in einer Kurve vor die Leitplanke gefahren war.

Zitternd hatte sie das Lenkrad umklammert, als der Fahrer des LKWs schließlich auf sie zu kam.

»Tun Sie mir nichts!«, hatte sie ihn angeschrien, als er ihre Fahrertür aufmachte.

»Ich will Ihnen nichts tun!«, hatte er gesagt, »Aber haben Sie den Mann bei Ihnen auf der Rückbank nicht gesehen?« — »Mann auf der Rückbank?«

Sie hatte nichts von einem Mann auf der Rückbank gewusst. Der LKW-Fahrer zeigte auf die hintere rechte Autotür, die zu dem Wald neben der Leitplanke hin offen stand.

Von den beiden unbemerkt hing eine schwache Dunstwolke über dem Boden vor der Rückbank, die jetzt langsam nach draußen zog.

Erschrocken hatte sie aufgeschrien. Wie konnte es sein, dass die ganze Fahrt über auf ihrer Rückbank ein Mann gesessen hatte und sie es nicht bemerkt hatte?

Ja... Das war der Zeitpunkt gewesen, an dem der LKW-Fahrer sie an der Hand nahm und in seinen Wagen bringen wollte. Er versprach ihr, mit ihr zur nächsten Tankstelle zu fahren und dort den ADAC zu rufen.

In den LKW kamen sie jedoch nie. Der Mann, der wohl bei ihr auf der Rückbank gesessen hatte, stand nämlich, bewaffnet mit einer Axt, bereits vor dessen Tür.

Der Fahrer hatte blitzschnell reagiert, sie an der Hand genommen und war mit ihr weggerannt.

Da war sie jetzt also. An der Hand eines wildfremden Mannes, verfolgt von einem Irren mit einer Axt. Wo war sie hier nur hineingeraten?

»Ist er noch hinter uns?«, fragte der Fahrer.

Erst traute sie sich nicht, sich umzudrehen, aber dann fasste sie Mut.

Sie wendete ihren Kopf nicht ganz. Das wagte sie nicht. Nur ein kleines Stück. Gerade weit genug, um mit einem Auge nach hinten gucken zu können.

Er war weg. Zuerst begriff sie es nicht wirklich. Sie dachte, dass sie sich täuschen würde. Dieser Irre war doch gerade eben noch so sehr darauf aus gewesen, sie umzubringen. Er würde doch jetzt nicht einfach im Wald verschwinden?

»Er ist weg«, stellte sie trotzdem schließlich fest, nachdem sie sich noch einmal umgedreht hatte, um sich zu vergewissern.

»Was?«, fragte der Fahrer verwirrt. Er blieb stehen und holte tief Luft. Auch sie blieb stehen und keuchte atemlos.

»Sind Sie sich sicher?«, fragte er schließlich und guckte zur Sicherheit selber noch einmal.

Dann schüttelte er verwirrt den Kopf.

»Tatsache!«

Er stand eine Weile einfach nur so da. Schließlich fragte er sie: »Wer... wer war dieser Mann eigentlich überhaupt?«

Sie schüttelte den Kopf: »Ich weiß es auch nicht!«

»Was?«, frage er, »Wie... wie kann das sein? Irgendwie muss er doch auf Ihren Rücksitz gekommen sein!«

»Ich weiß es wirklich nicht!«

Dann herrschte eine Weile lang peinliche Stille.

»Glauben Sie... Wir können zurück zu meinem Wagen gehen?«, fragte er schließlich vorsichtig, »Oder meinen Sie er ist immer noch da?«

Sie zuckte mit den Schultern. Die Frage beantwortete sich jedoch bald schon von selbst.

Noch während sie sich zum Gehen wandten, sprang der Wahnsinnige plötzlich aus dem Gebüsch.

Sein Gesicht konnte man kaum erkennen, denn er trug eine Sonnenbrille, einen Vollbart und eine olivfarbene Strickmütze, die tief ins Gesicht gezogen war.

»Was wollen Sie?«, schrie ihm der LKW-Fahrer mit dem Mut der Verzweiflung entgegen.

Der andere antwortete nicht. Er stand einfach nur schweigend da, mit seiner Axt.

Sie spürte seinen Blick förmlich durch die Sonnenbrille. Wer war er?

Der Fahrer machte einen Schritt vorwärts. Das war offenbar keine gute Idee, denn der Irre stürzte sich sofort auf ihn.

Schneller, immer schneller rannte er auf ihn zu.

Die Axt blitzte auf. Flog hoch in die Luft. Der Fahrer duckte sich.

Offenbar nicht schnell genug. Die Axt sauste runter und trennte ihm einen Arm ab. Das Blut spritzte meterweit über die Straße.

Ungläubig schaute der Fahrer auf. Dann fuhr die Axt von hinten auf seinen Schädel nieder und spalte ihn in der Mitte.

Die Frau zitterte. Das war mehr, als sie verkraften konnte.

Ihr Gehirn wusste das offenbar, denn es schien sich vollkommen abgeschaltet zu haben.

Langsam sackte sie auf ihre Knie nieder. Der Wahnsinnige beobachtete sie dabei ruhig.

Was? Warum?

Ihr Atem brannte in ihren Lungen und sie fühlte sich, als müsste sie kotzen. Nein! Das konnte... das war nicht passiert!

Langsam kam er auf sie zu.

Jetzt ist es aus!, dachte sie, Aus und vorbei!

Der Killer hob seine Axt. Lief auf sie zu. Noch im Laufen wurde er überfahren. Es war ein LKW.

Montagsstorys - Eine KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt