Story VI - Métro

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Bei dieser Story kommen Erinnerungen hoch. Ich schrieb sie, als ich grade frisch aus einem Urlaub in Paris zurückgekommen war und wollte damit eigentlich meine Eindrücke aus der Métro verarbeiten. Das Ergebnis ist eine recht nette Geschichte, wenngleich ich mich schließlich scheinbar doch dazu entschieden hatte, wenig Beschreibungen der Umgebung einfließen zu lassen, um die Action stärker zu betonen. Leider geht die ganz besondere Atmosphäre der Pariser Métro dabei völlig verloren. Manchmal sollte man sich wohl doch stärker auf das eigentliche Ziel fokussieren.



Ratlos stand ich am Bahnsteig der Pariser Métro. In irgendeiner der vielen Bahnen, die hier schon an mir vorbeigefahren waren, stand mein Aktenkoffer.

Nicht irgendein Aktenkoffer, sondern der vielleicht wichtigste in ganz Paris. Darin befanden sich die Aufzeichnungen zu den Forschungen meines besten Freundes, eines renommierten Psychologen, der kürzlich verstorben war und mir alles vermacht hatte.

Ich hatte keine Ahnung, woran er überhaupt gearbeitet hatte, weil er nicht gerne darüber sprach und ich hatte bis jetzt auch noch keine Gelegenheit gehabt, den Koffer in Ruhe zu öffnen und mir seinen Inhalt genauer anzusehen.

Was sollte ich jetzt tun? Ich sprach kaum ein Wort Französisch und stand jetzt schon fast eine Viertelstunde lang regungslos auf dem Bahnsteig. Eine Frau fing gerade an, auf Französisch auf mich einzureden, als ich mich schließlich umdrehte und beschloss, nach einem Infostand zu suchen, damit ich diese verdammte Tasche, wegen der ich überhaupt erst nach Frankreich gereist war, zurückbekommen konnte.

Riesige Menschenmassen strömten an mir vorbei, aber ich bemerkte sie kaum. Alles, was ich jetzt vor Augen hatte, war, dass mein bester Freund mir als seine letzte Tat sein Lebenswerk anvertraut hatte und dass ich dieses unendliche Vertrauen brutal gebrochen hatte!

Endlich! Da war ein Infostand! Hastig eilte ich darauf zu und redete in Deutsch auf den Mitarbeiter dort ein. Natürlich verstand er kein Wort. »Esskjjuus miii misterre! Kud schuu pliss spiik Inglisch?«, fragte er mich mit starkem französischem Akzent.

Ich überlegte kurz und erklärte ihm dann, dass ich eine wichtige Aktentasche in der Métro vergessen hatte.

Er machte ein etwas angespanntes Gesicht und sagte dann auf Englisch: »Das ist sehr schlecht, misterre! Wegen der ständig drohenden Terroranschläge wird jedes herumstehende Gepäckstück von der Polizei und dem Métropersonal sofort als potenzielle Bombe betrachtet!«

Ich schrie entsetzt auf: »Aber... diese Tasche ist alles, was mir mein bester Freund hinterlassen hat! Verstehen Sie? In dieser Tasche befindet sich sein komplettes Erbe!« — »Ich kann Ihnen nichts versprechen, misterre, aber ich werde mein Bestes geben, Ihre Tasche wiederzubeschaffen! In welcher Métro war das denn?«

Ich überlegte kurz: »In der um 14:15h!«

Er nickte kurz und griff dann nach dem Telefon, das neben ihm auf dem Schreibtisch stand. Nachdem er die Nummer eingetippt hatte, hielt er noch kurz den Hörer zu und sagte zu mir: »Sollte nicht lange dauern!«

Während er den Typen am anderen Ende der Leitung intensiv auf Französisch bearbeitete, ging ich nervös auf und ab.

War meine Tasche wohl noch zu retten? War sie schon von irgendeiner Spezialeinheit in die Luft gejagt worden? Nein! Ich durfte nicht daran denken! Das durfte nicht sein! Das würde bedeuten, ich hätte ausversehen das Lebenswerk meines besten Freundes zerstört!

Viele Leute liefen an mir vorbei. Dieses Telefonat schien wirklich eine Ewigkeit zu dauern! Alle diese Leute strömten ins Freie! Wenn ich es nicht schaffte, diese wichtigen Forschungsergebnisse zu retten, dann würde ich nie wieder frei sein, sondern für immer von meinen Schuldgefühlen gefangen gehalten werden!

»Misterre!« Die Stimme schreckte mich abrupt aus meinen düsteren Gedanken auf. 

»Misterre! Ihr Koffer wurde offenbar gefunden! Sie sollten sich allerdings beeilen! Wenn sie nicht innerhalb einer Viertelstunde bei der Opéra-Haltestelle sein sollten, sieht sich die Polizei leider gezwungen, die Tasche aus Sicherheitsgründen zu sprengen!«

Ich machte Anstalten, so schnell wie möglich zurück zum Gleis zu eilen, aber der Infostandtyp hielt mich zurück: »Es tut mir sehr Leid, misterre, aber aufgrund der potentiellen Bombengefahr wurden bedauerlicherweise sämtliche Linien, die in die Richtung Opéra fahren, gesperrt. Sie müssen sich wohl ein Taxi suchen!«

Ich fluchte. Obwohl ich nicht oft in Paris war — das man den Autoverkehr um diese Zeit vergessen konnte, wusste ich auch so!

Außerdem war es schon ein ganzes Stück von hier aus zu Opéra! Ich bedankte mich trotzdem hastig bei dem Typen und rannte dann, so schnell es in dem Berufsverkehrandrang möglich war, die Treppe hinauf ins Freie.

Ich hatte wohl keine andere Wahl, als da jetzt hinzurennen! Kein Taxi der Welt würde es innerhalb einer Viertelstunde schaffen, mich durch den Berufsverkehr zu kriegen! Ich riss mich zusammen und rannte so schnell ich konnte.

Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, war ich bereits nach ein paar Straßen komplett außer Atem.

Da entdeckte ich auf einmal ein Fahrrad, das ohne Schloss einfach so an eine Hauswand gelehnt war.

Ich zögerte keine Sekunde und schwang mich sofort drauf und radelte eilig die verbleibenden Straßen entlang, die noch zwischen mir und der Opéra lagen. Dann ließ ich das Fahrrad achtlos auf den Bürgersteig fallen und rannte hastig die Treppen hinunter in die Métrostation.

Einige Polizisten, die den Eingang bewachen sollten, wollten mich zurückhalten. »It's my bag!«, erklärte ich ihnen.

Einer von ihnen schien mich tatsächlich zu verstehen. »Wait!«, sagte er und sprach danach kurz in sein Funkgerät.

Offenbar hatte der Typ vom Infostand hier tatsächlich etwas mit der Polizei abgesprochen, jedenfalls nickte der Polizist schließlich und ließ mich passieren.

Einer seiner Kollegen, offenbar derjenige, der am besten Englisch sprach, eilte sofort herbei und fragte mich, ob ich der Eigentümer des Gepäckstücks sei, das im Verdacht stehe, eine Bombe zu enthalten.

Ich bejahte dies und erklärte ihm, so gut ich konnte, dass diese Tasche das Erbe eines Freundes war.

Er fragte, ob es in Ordnung sei, wenn die Polizei den Koffer in meinem Beisein öffnen würde, um sicherzugehen, dass er auch wirklich keine Bombe enthielt. Natürlich hatte ich keine Einwände dagegen und der Polizist brachte mich umgehend zu meinem unscheinbaren schwarzen Aktenkoffer, um den herum in einem Kreis mehrere Bombenentschärfungsexperten standen.

Der Polizist erklärte den Experten kurz die Situation. Einer der Entschärfungsleute sah mich an, zeigte auf den Koffer und fragte mich: »Open?« — »Yes!«, antwortete ich.

Der Experte nickte, öffnete den Koffer. Gebannt starrte ich hinein. Was mir mein Freund wohl hintermachen wollte? Woran er wohl all die Jahre geforscht hatte?

Ich hatte nur noch kurz die Gelegenheit, all die wirr verflochtenen Kabel in dem Koffer zu sehen, die sich unter einer LCD-Anzeige befanden, die genau in diesem Augenblick von 1 auf 0 umsprang...

Montagsstorys - Eine KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt