Story XXX - Vergessen

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Ich würde diese Geschichte bei Weitem nicht zu meinem besten Werk zählen. Nicht zuletzt weil ich noch weiß, wie sehr ich mir damals beim Schreiben jedes Wort abringen musste. Aber dennoch... Sie regt zum Nachdenken an.



Es war eine kleine Stadt gewesen. Schon immer. Aber jetzt, da er in den Zug stieg um sie zu verlassen, für immer, da schien sie ihm auf einmal so groß wie die ganze Welt.

Fast wäre er in Versuchung geraten, nicht in den Zug zu steigen. Nicht wegzufahren. Er wollte hier bleiben, aber er konnte nicht.

Nicht nach dem, was passiert war. Er würde es nicht schaffen. Nicht verkraften. Nein, er musste hier weg. Außerdem hatte er doch schon seine Stelle in der großen Stadt bekommen. Dort wurde er schließlich erwartet! Was würden die dort denken, wenn er einfach nicht kam?

Seinetwegen hatten andere Bewerber die Stelle schließlich nicht bekommen.

Sie hatten sich wahrscheinlich genauso angestrengt wie er, aber am Ende war er es gewesen, der die Stelle bekommen hatte.

Die anderen hatten sich bestimmt schon längst anderswo umgesehen und wenn er jetzt plötzlich absprang, dann würde sein Arbeitgeber ohne Unterstützung dastehen.

Abgesehen davon war er natürlich auch durch seinen Arbeitsvertrag gebunden. Wie er es auch drehte und wendete, er würde sich nicht davor drücken können. Er würde nicht in dieser kleinen Stadt bleiben können, in der er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.

Die anderen Einwohner würden es auch nicht wollen. Sie würden es ihm sogar sehr übel nehmen.

Zu sehr hatten sie sich schon die Mäuler darüber zerrissen, was aus ihm geworden sei. Zu oft hatten sie sich schon gefragt, wie es wohl dazu gekommen war.

Es gab kein Zurück mehr! Aber er konnte auch nicht aufhören, darüber nachzudenken, was wäre, wenn er bleiben würde. Die ganze Zeit verfolgten ihn diese Gedanken, während er hier auf den Zug wartete. Zu sehr hatte er in all diesen Jahren die kleine Stadt ins Herz geschlossen, so sehr er sie auch verachtete und sie ihn.

Und doch... Im Grunde seines Herzens war er sicher, dass die Stadt ihn vermissen würde, wenn er nicht mehr zurückkehrte. Niemals mehr.

Andererseits hatte selbst seine Mutter gesagt, dass sie nicht mehr seine Mutter sei, als sein dunkles Geheimnis rauskam. Dunkles Geheimnis.

Wie sich das anhörte! Es klang so, als hätte er ein Verbrechen begangen. Als hätte er jemanden ermordet oder vergewaltigt. Nichts davon hatte er getan. Nichts.

Und in der großen Stadt würden viele wahrscheinlich auch nicht auf die Idee kommen, das, was er getan hatte, als schlimm zu bezeichnen oder als etwas, wovor man sich fürchten musste oder was einen dazu veranlassen sollte, ihn zu meiden.

Allerdings würde er sein Geheimnis auch in dort hüten müssen, denn ansonsten würde man ihn wahrscheinlich wegsperren, in eines dieser Sanatorien, in die die selbstgerechte bourgeoisie alles verbannte, was nicht in ihr Weltbild passte.

Vielleicht würden sie dort sogar versuchen eine dieser neuartigen Gehirnoperationen an ihm durchzuführen, um seine geistige Verirrung zu heilen.

Er wusste nicht, was ihm lieber war. Für verrückt oder für einen Teufel gehalten zu werden.

Es spielte ja im Grunde auch keine Rolle. Dieses Mal würde er den Fehler nicht wieder machen. Dieses Mal würde er im Verborgenen bleiben.

Andererseits gab es in der Stadt doch bestimmt auch Gleichgesinnte. Und er hatte sogar gehört, dass es seit kurzem sogar Versammlungen von Leuten mit seiner... Begabung gab. Versammlungen, in denen man lernen konnte, wie man sie besser nutzen konnte.

Aber diese Versammlungen kosteten viel Geld — vermutlich um die Spreu vom Weizen zu trennen — und Geld war es, was ihm nicht in großen Mengen zur Verfügung stand. Selbst wenn er lange in seiner Firma arbeitete, er würde doch nicht genug verdienen können, um damit gleichzeitig seinen Unterhalt und die jährlichen Gebühren dieser Einrichtungen finanzieren zu können.

Und wenn er nicht einer von ihnen angehörte, dann würde früher oder später einer dieser Irrenärzte bei ihm vor der Haustür stehen.

Nein, das durfte er nicht zulassen. Er würde im Verborgenen bleiben. In der großen Stadt würde das funktionieren. Dort kannte ihn keiner.

Wobei... was, wenn sein Ruf ihm bereits vorausgeeilt war?

Nein! Wie sollte es funktionieren, dass Gerüchte von einem so kleinen Kaff in eine so große Stadt gelangten? Dass sie dort überhaupt irgendwer wahrnahm? Das war doch wohl völlig ausgeschlossen!

Er würde im Verborgenen bleiben. Wenn es sein musste, für immer.

Da kam endlich der Zug. Wie ein Leichenwagen schien er in den Bahnhof einzufahren. Wie ein Leichenwagen, der gekommen war, um ihn abzuholen und für immer fortzuschaffen, um die normalen Menschen zu schützen. Er schüttelte den Kopf. Nein.

Dann stieg er in den Zug ein und setzte sich auf den ersten freien Platz den er fand.

Es war das erste Mal, dass er Zug fuhr. Das erste Mal in seinem ganzen Leben.

Für eine Sekunde musste er an seine Nachbarin denken. Die einzige, die keine Angst vor ihm gehabt hatte. Die einzige, die noch bereit gewesen war, sich regelmäßig mit ihm zu treffen.

Die einzige, die ihn vermissen würde. Sollte er vielleicht doch aussteigen? Für sie?

Für eine ganze Weile wuchs der Gedanke in ihm und schließlich stand er auf. Ja! Sie würde ihn vermissen! Nicht alle in dieser verfluchten Stadt hassten ihn! Er war nicht komplett allein und isoliert!

Die Türen schlossen sich und der Zug fuhr ab.

Montagsstorys - Eine KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt