Story XVII - Lichter

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Diese Montagsstory, auch eine von der künstlerischen Sorte, zählt zu meinen Favoriten. Nicht mal so sehr wegen der Geschichte oder dem »Twist«, sondern einfach weil sie eine sehr starke Atmosphäre transportieren will und ihr das meiner Meinung nach perfekt gelingt.



Es gab keinen anderen Ort auf dieser Welt, an dem er jetzt so gerne sein wollte wie hier, in diesem Park.

Er saß in der Ecke, am Rande des Parks — direkt beim Zaun.

Neben ihm fuhren die Autos vorbei und warfen seltsame, tanzende Schatten in den außer ihm menschenleeren Park.

Er strich mit seiner rechten Hand über den Handschuh an der linken und beobachtete, wie eine Wolke seines Atems langsam zum Himmel empor stieg.

Er fühlte sich in diesem Moment unendlich alt.

War er wirklich innerhalb so kurzer Zeit so stark gealtert? Es stimmte schon, dass ihm dieser Fall ziemlich zu schaffen machte. Es würde doch wohl auch jeden früher oder später in den Wahnsinn treiben, hinter einem scheinbar unbesiegbaren Verbrecher herzujagen! Ein Verbrecher, den man einfach nicht fassen konnte.

Dabei war er nicht der einzige Polizist, der an dem Fall saß. Trotzdem gab nicht den Hauch einer Spur.

Eine komplette Abteilung des NYPD war im Augenblick nur damit beschäftigt, diesen einen Täter zu fassen. Er hatte nach einem völlig willkürlichen Muster in ganz New York City Läden zerbombt und die einzige Gemeinsamkeit zwischen diesen Fällen war, dass sie immer um die gleiche Uhrzeit stattfanden.

Er jedoch, der Polizist, der da so einsam im Central Park saß, er hatte eine besondere Verantwortung zu tragen, denn er stand dieser Abteilung vor und auf ihm lagen die Augen der Presse.

Wenn er scheiterte, dann war er erledigt.

Schon jetzt hatte er einen schlechten Ruf, weil der Täter ihm bereits seit über einem Monat auf der Nase herumtanzte.

Zuletzt hatte der Verbrecher der Polizei sogar Briefe geschickt, in denen er sie verhöhnte.

Der Mann seufzte. Es war vermutlich das Beste, wenn er den Fall fürs erste vergessen und einfach die kühle Abendluft genießen würde.

Nur... was hatte der Täter mit seiner Nachricht im letzten Brief gemeint, als er schrieb Selbst wenn ich vor euch stehen würde, und ihr mich auf der Stelle verhaften könntet, ihr würdet es nicht tun!

Was zur Hölle sollte das bedeuten? Was?

Oh, er sah schon wieder diesen nervigen, jungen Redakteur von der New York Times vor sich stehen, wie er sich durch die geligen, langen, weißen Haare fuhr und mit einem ekelhaften Grinsen fragte: »Was denn, Herr Kommissar? Immer noch nichts Neues? Sie lassen dem Täter aber einen großen Vorsprung! Meinen Sie nicht auch?«

Und wie peinlich das alles erst vor seinem Sohn war! Sein Sohn war von Klein auf immer ein großer Bewunderer von ihm gewesen.

Was dachte er jetzt nur von seinem großen Vorbild? Er war immerhin schon siebzehn und musste sich bald entscheiden, ob er in die Fußstapfen seines Vater treten wollte. Und würde er das tun, wenn er doch gesehen hatte, wie gnadenlos und unbarmherzig dieser Beruf war?

Der Kommissar schloss die Augen. Eine Brise strich ihm über das Gesicht. Als er die Augen wieder öffnete, zuckte er zusammen.

Der Redakteur stand plötzlich mit einem siegessicheren Lächeln vor ihm. Seine langen, weißen Haare wehten im Wind und der Kragen seines blutroten Hemdes, das bis zum Schlüsselbein aufgeknöpft war, flatterte sanft auf und ab.

Es war nicht nur eine Silhouette vor seinem geistigen Auge. Er war tatsächlich hier!

»Guten Abend, Chief!«, sagte er mit einer ruhigen, einlullenden Stimme. Der Polizist sagte nichts, sondern nickte nur abwesend.

Der Mann mit den weißen Haaren setzte sich neben ihm auf die Bank und sah ihn mit seinen tiefgründigen, blauen Augen einen scheinbar endlos langen Moment an.

Der Kommissar ignorierte ihn einfach.

Schließlich schien der Redakteur es nicht länger auszuhalten und fing an zu reden: »Wissen Sie... Es gibt da etwas, dass ich... bezüglich Ihres Falls herausgefunden habe, das ich gerne mit Ihnen teilen würde.«

Der Polizist drehte sich zu ihm um und warf ihm einen eiskalten Blick zu: »Warum wenden Sie sich dann nicht an das Kommissariat wie alle normalen Menschen?«

Das Lächeln des Medienmannes war so undurchdringbar wie eine Maske.

»Das liegt daran, dass diese Information Sie ganz persönlich betrifft und ich dachte mir... Sie haben vielleicht ein Interesse daran, dass es niemand außer Ihnen erfährt.« — »Was denn?« — »Nun... Sir... Ich glaube, ich weiß, wer Ihr Täter ist. Aber es wird Ihnen nicht gefallen. Ganz und gar nicht.« — »Wieso das?« — »Nun ja... wissen Sie... der Täter... Es spricht einiges dafür, dass der Täter Ihr...«

Er unterbrach sich. Dann atmete er scharf ein und wiederholte den Satz mit einer eisigen Kälte in der Stimme und brachte ihn zu Ende: »Es spricht einiges dafür, dass der Täter Ihr Sohn ist.«

Keine Reaktion.

Eine Weile lang saßen die beiden einfach nur schweigend da. Keiner sagte etwas. Man hörte nur, wie die Vögel leise zwitscherten.

Nach einer Weile stand der Weißhaarige schließlich auf und strich sich durch die Haare: »Tja... Es war wirklich schön, mit Ihnen gesprochen zu haben, aber ich habe leider noch... einige dringende Sachen zu erledigen, die keinen Aufschub dulden! Einen angenehmen Abend noch!«

»Warten Sie!«, es war das erste Mal in seinem Leben, dass der Polizist von sich aus das Wort an einen Journalisten richtete.

Der Redakteur, bereits zum Gehen gewandt, drehte sich noch einmal um.

»Warten Sie«, wiederholte der Polizist, dieses Mal mit etwas sanfterer Stimme, »Was... Was werden Sie jetzt tun?«

Der Jüngere überlegte einen Augenblick und grinste ihn dann wieder so siegessicher an, wie eh und je: »Tja... da Sie mir leider immer noch keinen Hinweis auf den Täter geben konnten... Muss ich der Öffentlichkeit wohl leider ein weiteres Mal sagen, dass unsere Polizei noch nicht sonderlich fähiger geworden ist... Ich wünsche Ihnen viel Glück, Chief. Ich wünsche Ihnen, dass sie den Täter bald finden. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie herausgefunden haben, wer es ist. Guten Abend!«

Seine Haare wehten hinter ihm her. Tanzten mit jedem Schritt, der ihn weiter forttrug.

Der Polizist fühlte sich jetzt noch älter und verwirrter als zuvor. Er schloss die Augen und atmete tief ein und aus.

Als er sie wieder öffnete, war er allein im Park. Allein mit den tanzenden Lichtern, die seltsame Schatten warfen.

Montagsstorys - Eine KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt