Merkwürdig. Eigentlich musste sie doch schon längst die Grenze überquert haben. Aber keine der Straßen um sie herum kam ihr bekannt vor.
Sie warf einen Blick auf ihr Navi. Laut ihm befand sie sich bereits in Deutschland. Die Straßenschilder waren aber alle noch auf Holländisch...
Ratlos fuhr sie an den Straßenrand und kratzte sich am Kopf. Wo zur Hölle war sie?
Das Navi schien es jedenfalls nicht zu wissen. Sie stieg aus und sah sich um. Offenbar befand sie sich irgendwo an einer Landstraße, die sich eigenartigerweise an vielen Stellen gabelte.
Wahrscheinlich war sie vorhin falsch abgebogen. Kein Wunder, wenn man sich beim Fahren auf ein Navi verließ, das eigentlich sowieso nie funktionierte!
Aber was sollte sie jetzt tun?
Nachdenklich ging sie ein paar Schritte vom Auto weg und schaute sich den weiteren Straßenverlauf an.
Wie es aussah hatte sie zwei Optionen: Entweder sie folgte der Landstraße weiter oder sie bog bei der nächsten Gabelung rechts ab und schaute, wo sie hinführte.
Eine Brise fuhr durch das hohe Gras am Straßenrand.Sie zitterte unwillkürlich. Warum hatte sie auch keine Jacke eingepackt?
Eilig stieg sie wieder ins Auto und fuhr los.
Als sie bei der Gabelung angekommen war, blieb sie mitten auf der Straße stehen. Es war außer ihr sowieso keiner hier, den es gestört hätte.
Dann kniff sie die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, wohin die Straße führte. War das da hinten ein Dorf? Wenn ja, konnten sie ihr dort bestimmt sagen, wie sie nach Deutschland kommen konnte!
Wenn man hier überhaupt Deutsch sprach...
Die Frau guckte auf ihre Uhr und presste angespannt die Lippen zusammen. Ihr Kontaktmann in Deutschland erwartete die Lieferung in zwei Stunden. Bis dahin musste sie den Weg gefunden haben!
Ohne groß weiter nachzudenken drückte sie aufs Gas und bog ab.
Die Gefahr, dass man in diesem Dorf kein Deutsch sprach, war wirklich nur eine kleine Sorge, wenn sie daran dachte, was sie erwartete, wenn sie es nicht rechtzeitig schaffte!
Während der Fahrt hielt sie angespannt das Lenkrad umkrallt und achtete nicht auf die nervige Popmusik aus dem Radio.
Sie achtete auf nichts. Nicht mal auf die Straße vor sich.
Würde sie nicht jeden Tag längere Strecken mit dem Auto fahren und hätte ihr Körper es nicht so vollends verinnerlicht, wäre sie mit Sicherheit irgendwo gegen gefahren.
Zum Glück hatte sie die Erfahrung und ihr Körper brachte sie sicher nach vorne, während ihre Gedanken die ganze Zeit nur um den Auftrag kreisten.
Genauer gesagt: den Auftraggeber.
Sie biss sich auf die Unterlippe.
Er hatte Beweise dafür, dass sie ihren Chef ermordet hatte. Erpresste sie, dass sie für ihn diese Schmugglerfahrten nach Amsterdam machen musste.
Es war doch wirklich zum Kotzen!
Sie gab noch mehr Gas. Einmal schon hatte sie den Zeitplan nicht einhalten können. Damals hatte er der Polizei einen anonymen Hinweis gegeben, woraufhin die ihr Haus durchsucht hatten.
Es gab dort zwar nichts zu finden, aber die Einschüchterung wirkte. Sie hatte sich danach immer beeilt. Immer. Aber jetzt...
Jetzt war sie irgendwo in Holland auf dem Land, vielleicht sogar schon in Belgien und hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie nach Deutschland kommen sollte.
Dann endlich, nach einer gefühlten Unendlichkeit, tauchte das Dorf vor ihr auf.
Sie raste an einer Blitzeranlage vorbei, ohne sie zu beachten, und machte mitten auf der Hauptstraße des Dorfes eine Vollbremsung.
Die Reifen qualmten, es roch nach verbranntem Gummi und die Pflastersteine unter ihr wackelten bedenklich.
Sie atmete tief durch. Ihr Puls raste. Als sie sich wieder beruhigt hatte, stieg sie aus und suchte nach irgendjemandem, der ihr helfen konnte.
Hastig und immer panischer werdend, ging sie durch alle Straßen des kleinen Ortes, aber nirgendwo war eine Menschenseele zu finden.
Dann hörte sie auf einmal eine Stimme hinter sich rufen: »Handen hoog!«
Sie streckte tatsächlich vorsichtig die Hände hoch und drehte sich langsam um.
Da stand ein Polizist. »Kom mee! Je staat onder arrest!«, rief er jetzt und machte eine auffordernde Handbewegung. Sie sah ihn ratlos an.
»Komme Sie met!«, rief er jetzt auf Deutsch mit starkem Akzent, »Sie sän verchafftet!«
»Wieso?«, fragte sie verwirrt.
Wortlos deutete der Polizist auf das Auto der Frau, das hinter ihm stand.
Voller Entsetzen sah sie den toten Jungen, der dort vor ihren Reifen lag. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie ihn überfahren hatte.
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Montagsstorys - Eine Kurzgeschichtensammlung
Historia CortaHorror. Romantik. Action. Jede Geschichte braucht eine Atmosphäre, die sie spannend und unterhaltsam macht. Jeder Autor muss lernen, sie zu schaffen. Dies sind die 32 Kurzgeschichten, mit denen ich das Handwerk des Schriftstellers erlernte. Komplett...