Ich öffne mich zum Schluss

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Tom


Gleißendes Licht durchströmte seinen Körper. Ich sah es nicht, aber spürte es. Millionen kleiner magischer Moleküle flossen durch Harrys Adern und lösten mich Stück für Stück von ihm ab. Endlich nahm ich das satte Grün wahr und fand mich in einer donnernden Explosion wieder, die mich, selbst nur eine Wolke dukler Energie, hoch in die Lüfte fegte.

Oben über den Baumkronen nahm ich als Schatten meiner Selbst meinen allerersten Atemzug. Ich fiel wieder zu Boden, noch bevor sich die Wolke aus Laub, Staub und Licht wieder legte und ließ mich mit dem lauen Sommerwind davon tragen.

Auf diesen Moment hatte ich sechzehn Jahre gewartet. Obgleich ich dachte, wenn wir von dieser Welt gehen, dann gehen wir zusammen. Stattdessen haben wir beide den tödlichen Fluch überlebt. Er hat uns lediglich entzweit, so, wie er uns damals zusammen gebracht hatte.

Etwas wehmütig stimmte mich das schon, lieber Harry, das muss ich zugeben. Schließlich sind wir zusammen aufgewachsen. Ich habe mit dir zusammen die ersten Schritte gemacht, habe deinen ersten Worten gelauscht, gespürt, als du merktest, dass du anders, als die anderen Kinder warst. Ich habe mit dir Guns n' Roses gehört und weiß, dass du an deine Eltern gedacht hast, wenn sie Knocking on Heavens Door spielten. Als dir der sprechende Hut aufgesetzt wurde, wollte ich unbedingt zurück nach Slytherin. Doch du wolltest mir nicht zuhören. Die Zuckergußtorte mochtest du am liebsten, weil ich sie als Kind immer aß. Durch mich konntest du mit Schlangen reden, hast dich nicht an Regeln gehalten und hattest immer einen Drang zur Geheimnistuerei. Wegen mir warst du so gut auf dem Besen. Ich kannte es schließlich schon. Ich war dabei, als du dich das erste Mal verliebt hast. Ich weiß auch, wie fertig du warst, als Cho dir einen Korb gegeben hat. Umso mehr weiß ich, wie ich mich gefreut habe, als mein älteres Ich Cedric getötet hat. Du hättest dich auch freuen sollen! Doch obwohl wir uns so nahe wie Brüder waren, führten wir ständig einen inneren Kampf.

Ohne zurück zu blicken schlängelte ich mich über den Boden des Verbotenen Waldes, bis ich auf einmal ein kleines Funkeln bemerkte. Ich umhüllte es und versuchte es zu ertasten. Dich kenne ich doch, dachte ich. Bis vor einem Jahr hatte hier drin ebenfalls ein Seelenteil von mir gewohnt. Ein kleiner schwarzer geschliffener Stein, entnommen aus dem Ring meiner Vorfahren.

Ich umschloss den Stein fester und ließ ihn vom Boden aufsteigen. Ich ließ ihn drei mal umdrehen, als ich merkte, wie sich der Grund unter mir bewegte und die Luft um mich herum anfing zu vibbrieren. Wie eine kleine Galaxie sog der Stein Erde vom Boden und Wasserperlen von den Blättern der Bäume zu einem Wirbel zusammen, der mich umgab. Ich beobachtete, wie ich wieder an Kontur gewann, meine Gliedmaßen sich formten und meine Sinne sich intensivierten.

Dann spürte ich nur noch Kälte. Nasse Kälte und den harten Boden.

Ich sah an mir herunter und konnte es kaum fassen: Ein nackter, blasser, dreckiger Köper. Ein empfindener Köper. Ein atmender Körper.

Hektisch fuhr ich mit den Händen durch mein Gesicht und die Haare. Ich schnappte nach Luft, als mir klar wurde, dass ich Haare hatte. Und eine Nase. Nocheinmal blickte ich an mir herab. Ich hatte den Körper eines sechzehn oder siebzehn Jährigen.

Als ich damals mit Harrys Körper verschmolzen war, kannten meine magischen Gene wohl kein Alter. Ich musste zusammen mit ihm gewachsen sein.

Mit wackeligen Beinen zog ich mich an einem Baumstamm hoch. Stimmen waren zu hören und ich drückte mich an die Rinde, um nicht gesehen zu werden. Sie gingen zum Schloss. Ich sah mein älteres oder ursprüngliches Ich. Obwohl mir klar war, dass das quasi ich war, wollte ich mich noch nicht zu erkennen geben. Es hatte möglicherweise etwas damit zu tun, dass ich immer noch nackt war.

So ließ ich sie vorbei ziehen und schlich an die Stelle, an der sie vorher auf Harry gewartet hatten, in der Hoffnung irgendetwas zum Anziehen zu finden.

Was ich vorfand, war eine Leiche. Ich wusste nicht, wer das war. Ein Mann um die vierzig, schätzte ich. Er musste nach meiner Zeit Todesser geworden sein.

Meine Zeit. Ein seltsames Gefühl. Im Grunde war jetzt erst meine Zeit, obwohl ich mich an Dinge aus Voldemorts Leben erinnerte, wie aus einem Traum.

Ich zog dem toten Mann seine Schuhe, die Hose, das Hemd und den Umhang aus. Dabei bemerkte ich, dass er einen Zauberstab in der Hand hielt. Ich wusste zwar nicht, ob dieser für mich funktionierte, doch es war besser als nichts.

In seinen Sachen ging ich etwas unter. Ich war ziemlich schmächtig und fragte mich, ob Harry daran Schuld war. Daran müsste ich jedenfalls noch arbeiten.

Ich ging zum Waldrand, entschied mich aber erneut, unentdeckt zu bleiben. Vom Schloss her hörte ich Schreie und sah Blitzlichter aufflackern. Es musste zu einer Schlacht gekommen sein. Da würde ich jetzt sicherlich nicht hingehen. Ich war gerade erst neu geboren worden und würde das nicht aufs Spiel setzten, bevor ich wusste, wozu ich eigentlich fähig war. Ich konnte kaum geradeaus laufen und atmete jetzt schon schwer.

Ich lehnte mich an einen Baum, ließ mich vorsichtig auf den Boden gleiten und betrachtete den Stein in meiner Hand. Ich musste noch mal ganz von vorne anfangen. Nein, ich durfte nochmal ganz von vorne anfangen.



Geblendet - TomioneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt