Erste Schritte

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Tom

Ich ließ meine Fingerspitzen über den weichen Stoff des grünen Samtvorhangs gleiten. Das Bett hatte ich größer in Erinnerung gehabt aber es sollte reichen. Ich hatte schließlich nicht vor, es mir mit jemandem zu teilen. Ich schaute mich im Zimmer um. Es hatte sich kaum etwas in den Schlafsälen der Slytherins verändert. Ein Nachtisch, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank, um das Allernötigste zu verstauen. Nur besaß ich rein gar nichts, außer das, was ich an mir trug.

"Professor McGonagall möchte, dass Sie ein Einzelzimmer bekommen", kam es von der Tür.

Ich drehte mich um und blickte in das verwirrt wirkende Gesicht von Professor Slughorn, dem Hauslehrer der Slyterhins. Wenigstens hier konnte ich der Schulleiterin für einen Moment entkommen. Slughorn war über die Situation informiert worden. Seitdem starrte er mich an, wie ein aufgeschrecktes Reh. Ich war mir sicher, dass er jede meiner Bewegungen genau studierte, jedem meiner Worte angestrengt lauschte. Es war nicht nur die Tatsache, dass er glaubte, ich wäre Voldemorts Sohn. Er wollte mit Sicherheit - wie alle - wissen, wie ähnlich sich Vater und Sohn waren. Slughorn hatte mich schon als Schüler gekannt. Für ihn musste dieser Moment die reinste Freak-Show sein. Vielleicht ahnte er aber auch, wer oder besser was ich wirklich war. Sollte er nur. Beweisen konnte er nichts.

"Bis zu Beginn des Schuljahres werden Sie außerdem eine Spur auf sich tragen. Damit wissen wir zu jeder Zeit, wo Sie sich aufhalten und welche Zauber Sie ausführen." Slughorn zupfte nervös an seinem Umhang. "Nachdem das neue Schuljahr begonnen hat, werden wir dann weitersehen."

"Professor, woher bekomme ich eine Schuluniform? Eigentlich brauche ich alles. Bücher, Feder, Pergament." Ich hielt den Zauberstab des toten Mannes hoch. "Nicht mal der gehört mir. Ich habe ihn im Wald gefunden."

"In welchem Wald?", fragte Slughorn.

"Der an das Grundstück zum Schloss grenzt."

Slughorn runzelte leicht die Stirn. "Da dürfen Sie ab sofort nicht mehr ohne die Begleitung eines Erwachsenen hinein gehen."

Ich tat überrascht, zeigte aber keinen Widerwillen. "Natürlich nicht. Ganz wie Sie meinen, Sir."

Ich bemerkte, wie er kurz zusammenzuckte.

"Die Schule hat einen Topf für Waisen. Machen Sie sich also über Ihren Aufenthalt hier keine Sorgen. Einige Abgänger der Schule haben ihre alten Schuluniformen hier gelassen, falls sich jemand keine eigenen leisten kann."

Ein seufzen entfuhr mir. Ich fing tatsächlich wieder von ganz vorne an. "Ist da auch ein neuer Zauberstab drin?"

"Davon gehe ich aus", sagte Slughorn. "Ein paar Hauselfen werden Ihnen gleich das Nötigste hier herunter bringen." Damit verabschiedete er sich und ließ mich endlich alleine.

Slytherin war nun wieder mein zu Hause. Das einzige, was ich jemals hatte. Um mich im neuen Jahr nicht mit den ganzen Kindern vor den sprechenden Hut einreihen zu müssen, hatte ich McGonagall gebeten ihn mir direkt bei ihr im Büro aufzusetzen. Dieser hatte natürlich sofort gewusst, wo mein Platz war. Doch kurz hatte ich befürchtet, er könnte mich erkennen und verraten. Ein Riddle, was? Nein, sogar Tom Riddle! Aber auch nicht wirklich... Merkwürdig... Ich sehe auch ein wenig von einem anderen Jungen in dir. Nicht irgendein Junge. Der Junge der überlebte! Aber wie kann das sein? Ich hatte ihm in meinen Gedanken geantwortet, dass ich nunmal nicht der Tom Riddle von früher bin und schon gar nicht Harry Potter und er sich mit seiner Entscheidung gefälligst beeilen soll. Da war es mir erst aufgefallen. Harry hatte all die Jahre einen Teil von mir in sich getragen. Nun trug ich einen Teil von ihm in mir. Wahrscheinlich war es kein Seelenteil und ich war mit Sicherheit kein Horkrux. Irgendetwas hatte dennoch seine Spur in mir hinterlassen. Ich fragte mich, wie dieser Teil mich noch beeinflussen und ob ich die Anteile überhaupt erkennen würde. Waren sie vielleicht sogar Schuld daran gewesen, dass ich Hermine nicht umbringen konnte? Ich schüttelte schnell den Kopf. Nein, ich konnte sie beseitigen, wann immer ich wollte. Eventuell könnte ich sie noch brauchen. Jetzt gerade gab es keinen Grund zur Eile.

Ich schmiss den Umhang des Toten auf das Bett, ging zum Schreibtisch und griff mit beiden Händen an die Lehne des Stuhls. Ich hob ihn über meinen Kopf und wiederholte diese Bewegung ein paar Mal. Selbst mit meinen schmächtigen Armen, spürte ich zu wenig Belastung durch das Gewicht. Ich knöpfte das schwarze Hemd auf, warf es ebenfalls auf das Bett, ging runter auf den Boden und fing an Liegestütze zu machen. Schon besser, dachte ich. In ein paar Wochen würde ich wieder in Form sein. Niemand würde einem dünnen, neuen Jungen folgen wollen. Ich würde zudem eine bessere Kondition benötigen, um in Duellen standhaft bleiben zu können. Jeden Tag Muskeltraining und drei Mal die Woche Lauftraining sollten genügen. Schweißperlen lösten sich von meiner Stirn und rannen meine Nasenspitze herunter. Ich stützte mich schwer atmend auf meinen Knien ab und blickte zum Zauberstab. Gleich morgen würde ich auf einen eigenen bestehen. Ich wusste so viel über Zauber und Flüche und hatte in Wahrheit so wenig davon selber angewendet. Die Bewegungsabläufe und Sprüche waren alle in meinem Kopf, jetzt musste ich nur noch meinen Körper an die Ausführungen dieser gewöhnen. Verzögerte Reaktionen von nur wenigen Millisekunden konnte ich mir nicht leisten.

So vergingen die Wochen, die ich, wann immer ich konnte, in stiller Einsamkeit verbrachte.  Ab und an kam jemand vom Ministerium, um mich zu sehen und Fragen über meine Vergangenheit zu stellen. Ich erzählte ihnen belangloses Zeugs und tat, als wüsste ich nicht, worauf sie hinaus wollten. McGonagall rief mich noch ein paar Mal zu sich, um meinem Wissensstand abzufragen. Ich konnte ihr so viel beantworten, dass ich einige falsche Antworten geben musste, um wenigstens für das letzte Schuljahr zugelassen zu werden. Wenn ich alleine war trainierte ich körperlich und geistig, trieb Sport auf den Ländereien oder versank in ein Selbststudium in der Bibliothek. Olivander hatte sich noch nicht wieder imstande gefühlt, seinen Laden zu öffnen. Ich würde jedoch nicht der Einzige sein, der vor Schulbeginn einen Zauberstab benötigte. Ich hoffte nur, vor den großen Anstürmen in die Winkelgasse gehen zu können. Ich hatte mich so sehr an die Einsamkeit gewöhnt, dass ich Menschen mittlerweile als abstoßend empfand. Wie bei einem Neugeborenen nahm ich alles auf wie ein Schwamm. Das half mir zwar beim Lernen, doch wenn ich Reize aufnahm, die von Menschen ausgingen, war mein Pensum schnell erreicht und ich zog mit zurück. Das Geräusch, wenn sie schluckten, wenn sie sich am Kopf kratzten oder einfach nur atmeten, es trieb mich fast in den Wahnsinn. Ein Neugeborenes würde alles erführchtig mit großen Augen bestaunen, doch ich war wenig fasziniert von den Bewegungen und Geräuschen anderer Personen. Ihre durchschnittlichen Gespräche und aufgesetzte Mimik und Gestik. Dieser ewige, sich wiederholende Eiertanz um gesellschaftliche Konventionen und Erwartungen. Wie sollte ich ein Leben unter anderen Mitmenschen nur ertragen?

Eines Morgens klopfte es an der Tür zu meinem Schlafsaal. Ich blickte von meinem Buch über die Dementoren auf und legte es auf den Schreibtisch. Bis jetzt hatte ich noch nicht versucht einen Patronus heraufzubeschwören. Viel wichtiger war es mir aber, auch diesmal die Dementoren auf meine Seite zu bringen. Ich ging zur Tür und öffnete sie. Vor mir stand Slughorn, der sich in meiner Gegenwart immer noch verkrampfte.

"Professor, schön Sie zu sehen", sagte ich mit einem kühlen Lächeln.

"Ebenfalls." Er händigte mir eine Liste und einen Beutel voller Münzen aus. "Hier ist eine Liste an Schulmaterialien, die Sie benötigen werden. Die meisten Bücher können wir Ihnen gebraucht geben. Einige sind jedoch in einer komplett neuen Auflage erschienen, da sie im letzten Schuljahr von Todessern verbrannt wurden." Er blickte mir fest in die Augen.

"Das ist furchtbar", sagte ich tonlos.

Slughorn räusperte sich. "Ich gehe davon aus, dass Sie in der Lage sind, alle Erledigungen alleine zu machen."

"Sie lassen mich alleine in die Winkelgasse gehen?" Das überraschte mich. Und dann auch wieder nicht. Ich war mir sicher, es hatte keinen Freiwilligen gegeben, der mich begleiten wollte.

"Sie sind alt genug." Er klopfte mir auf die Schulter. "Das schaffen Sie schon. Vergessen Sie nur nicht, dass Sie auch dort die Spur auf sich tragen. Wenn Sie möchten, kann es gleich los gehen. Sie können das Flohnetz in Professor McGonagalls Büro nutzen."

Ich nickte und folgte ihm. Es war bereits eine Woche vor Schulbeginn und ich hoffte auf halbwegs leere Gassen und Geschäfte und einen kurzen, ereignislosen und unbemerkten Aufenthalt. Doch ich bekam natürlich genau das Gegenteil.

Geblendet - TomioneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt