Misas Sicht:
Noch immer befanden wir uns bei Misono Zuhause und starrten fassungslos auf den Fernseherbildschirm, auf dem inzwischen irgendeine Müsliwerbung lief. Was Mikuni uns vorhin von seinem Telefonat berichtet hatte, hatte uns alle zum Nachdenken gebracht. Anscheinend gab es mehr als nur eine Zyu. Wie das zustande kam, weiß absolut keiner, aber C3 hat uns darum gebeten, uns mit den anderen Servamps und ihren Eves zu vereinigen, um die "falsche" Zyu auszulöschen. An sich wäre das kein großes Problem... wenn man außer Acht lässt, dass C3 sich nicht sicher sind, ob es noch mehr falsche Zyus gibt. Es muss jemanden geben, der sie für seine Zwecke kopiert hat. Und er könnte jederzeit mehr von ihnen erschaffen, eine ganze Armee von Zyus, die irgendwann alle Menschen vernichten, dann alle Vampire, dann...
Der laute Klingelton meines Handys riss mich aus meinen Vorstellungen. Gedankenverloren nahm ich den Anruf an, ohne auf die Nummer zu achten. "Hallo?" fragte ich. "Misa? Oh Gott, wo bist du?!" erklang die besorgte Stimme meiner Tante. Ich erstarrte. Wie lange war ich eigentlich nicht mehr zuhause...? "Ich, ähm. Tut mir leid..." "Ich habe so oft versucht, dich anzurufen! Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Weißt du eigentlich, dass ich mir Sorgen mache, wenn du nicht mehr nach Hause kommst? Sakuya hat sich gemeldet, nur über ihn habe ich erfahren, dass du letzte Nacht bei ihm übernachtet hast..." "Moment, stopp! Sakuya?" unterbrach ich sie verwirrt. Warum sollte Sakuya ihr das erzählen? Er wusste doch auch nicht, wo ich war, oder? "Ja, genau der! Ich bin enttäuscht von dir, Misa. Du kommst sofort nach Hause, klar?" rief sie hysterisch. Ich seufzte. Meine Tante konnte ziemlich leicht aus der Fassung geraten. "Ja. Klar. Bis später."
Fragend sah mich Lilly an. "Ich hatte vergessen, dass meine Tante zu Hause auf mich wartet.. Ich hätte nicht die Zeit vergessen sollen... Tut mir leid. Ich helfe euch gerne, aber ich muss nach Hause." Entschuldigte ich mich. Lilly lächelte sanft. "Das ist in Ordnung, ich fahre dich gerne. Du hast Misonos Nummer, wir werden dich über alle Neuigkeiten informieren." Ich bedankte mich und schlüpfte in meine Jacke, die mir Kuro hinhielt. "Und du glaubst, es ist okay, wenn du mit einer Katze zusammen bei deiner Tante auftauchst?" warf Misono ein. Ich verdrehte die Augen in seine Richtung. "Nein, danke, ich brauche keinen Aufpasser für meinen Servamp. Ich bin gerne sein Eve, und das wird sich bestimmt nicht so bald ändern." erwiderte ich freundlich.
Die Fahrt verlief ruhig. Lilly lächelte mir immer wieder aufmunternd zu, da er wusste, dass ich mir wegen der Reaktion meiner Tante Sorgen machte. Sie war bestimmt wütend auf mich. Wir umarmten uns noch zum Abschied, dann stieg ich mit Kuro auf dem Arm aus der Limousine und beobachtete noch, wie sie davonfuhr. "Misa!" Ich zuckte zusammen und bereitete mich innerlich auf das Gespräch mit meiner Tante vor. Doch überraschenderweise war es nicht Tante Kana, die auf den Stufen zum Eingang hockte und auf mich wartete. "Sakuya?" wunderte ich mich. Was machte er hier? "Deine Tante hatte einen Notfall im Krankenhaus und musste dringend weg. Sie hat mich angerufen, auf dich zu warten. Komm, wir machen einen Spaziergang." Immer noch verwirrt nahm ich die Hand, die er mir hinhielt, und folgte ihm den Weg am Waldrand entlang.
Er kam mir komisch vor. Warum glaubte ich ihm nicht, dass Kana einen Notfall hatte? Irgendetwas stimmte nicht. "Warum hast du ihr erzählt, ich würde bei dir übernachten?" Fragte ich zögerlich. "Hätte ich etwa zulassen sollen, dass du in Schwierigkeiten gerätst?" gab er zur Antwort. Ich sah ihn misstrauisch von der Seite aus an. Er hatte den Blick auf den Weg gerichtet und lächelte vor sich hin. Irgendetwas an diesem Lächeln gefiel mir nicht. "Wohin gehen wir eigentlich?" Fragte ich eine Weile später. Wir hatten kein Wort mehr gesprochen und dieser Spaziergang machte mir inzwischen etwas Angst. Ich konnte Kuros leichtes Gewicht auf meiner Schulter spüren, was mich etwas beruhigte. Wir waren tiefer in den Wald gegangen, abgetrennt von all den Menschen in der Stadt. Das gefiel mir gar nicht. "Sakuya?" Fragte ich noch einmal, als er nicht antwortete. Er blieb stehen, sah mich jedoch nicht an. "Misa, ich... ich muss dir etwas sagen..." Ich wollte etwas erwidern, da durchbrach plötzlich der Klingelton meines Handys die Stille. Ich erschrak mich fast zu Tode und griff instinktiv in meine Hosentasche.
"Geh nicht ran!" Ich hielt mitten in der Bewegung inne. Sakuya wandte sich nun endlich mir zu. Verwirrt sah ich zu ihm auf. Was, wenn der Anruf wichtig war? "Bitte, geh einfach nicht ran." bat er. Sein Blick strahlte Nervosität und Entschlossenheit aus. "Glaub mir. Was du hören würdest, willst du nicht hören." Mir kam diese Situation nun mehr als seltsam vor. "Kannst du mir bitte verraten, warum du dich so seltsam verhältst?" forderte ich. Er sah zu Boden. "Später, versprochen. Vorher möchte ich dir etwas zeigen. Komm." Er stieg über einen abgestorbenen Ast und wartete darauf, dass ich ihm folgte. Seufzend machte ich einen Schritt nach vorne, wurde aber am Ärmel zurückgehalten. Hinter mir stand Kuro in seiner menschlichen Form, er hielt mein Handy in der Hand. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie er von meiner Schulter gesprungen ist. "Was ist?" Besorgt hielt er mir mein Handy hin. Was ich zu sehen bekam, löste in mir eine Welle von Panik aus. Ich hatte einige neue Nachrichten, doch drei Worte sprangen mir besonders ins Auge.
"Kana ist tot."
Mit zittrigen Händen sah ich Sakuya an. "H..hast du das etwa gewusst?" stotterte ich. Ich war fassungslos. So etwas konnte nicht passieren. Nicht Kana. "Sakuya..." Ich holte tief Luft. "Weißt du, wer es gewesen ist? Wie ist das passiert?" Er regte sich nicht, verzog keine Mine. Nur leichte Schuldgefühle spiegelten sich in seinen Augen, die jedoch sofort durch etwas anderes ersetzt wurden. "Das warst doch nicht etwa..." Ich schüttelte den Kopf. Tränen stiegen in mir auf, als er nicht antwortete. Ich hatte ihm vertraut. Und jetzt stand ich hier im Wald, mit ihm, mit einem Mörder.
"Ich sagte doch, dir würde es nicht gefallen."