Mir blieb die Luft weg, als ich das Haus meiner Tante erblickte. Der Ort, an dem ich viele schöne Kindheitserinnerungen gesammelt hatte. Der Ort, an dem Kana die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Dieser sonst so friedliche, stille Ort inmitten der Natur hatte sich in einen unguten Schauplatz verwandelt. Einige Leute waren schon dabei, den Weg zum Eingang abzusperren, doch ich musste das Recht haben, das Haus betreten zu können. In der engen Einfahrt stand ein Polizeiauto, an dem ich eilig vorbeischritt.
„Misa Sakura?" rief die Stimme eines älteren Herrn hinter mir. Ich wandte mich um, Kuro fest an mich gepresst. „Die bin ich." Der Polizist musterte meine wirren, mit Laub bedeckten Haare und mein tränenüberströmtes Gesicht. Bis jetzt hatte ich nicht einmal bemerkt, dass ich geweint hatte. Mein Aussehen war mir in diesem Augenblick jedoch egal. „Das was deiner Tante passiert ist, tut uns leid. Es muss schwierig sein, eine Person zu verlieren, die man liebt. Wir sehen es ein, dass du Zeit für dich brauchst. Trotzdem würden wir dir gerne möglichst bald ein paar Fragen stellen, wenn das in Ordnung ist." Ich nickte ausdruckslos. „Sicher. Melden Sie sich einfach bei mir." Dann wandte ich mich wieder ab, um ins Haus zu gehen.
„Warte, da gibt es noch etwas!" Hielt mich der Polizist auf. Gestresst blieb ich stehen. „Wir haben in deinen Unterlagen nachgelesen, dass du keine weiteren Familienangehörigen hast, die sich momentan in Japan aufhalten. Und du bist noch nicht volljährig. Wir können dich auf keinen Fall alleine wohnen lassen, vor allem nicht in diesem Haus. Das ist ein Tatort." Na, wunderbar. Innerlich bereitete ich mich schon darauf vor, Lilly und Misono ein weiteres Mal zur Last fallen zu müssen. „Zum Glück haben sich sofort die Eltern eines engen Bekannten telefonisch angeboten, dich bei sich aufzunehmen...." Er kramte einen kleinen Zettel mit Notizen hervor. „Du wirst bei deinem Freund Sakuya wohnen. Den kennst du ja sehr gut. Wenn du jetzt deine Sachen packst, können wir dich hinfahren."
Ich stand da wie angewurzelt. Ich sollte mit Kuro beim Mörder meiner Tante wohnen?! Wusste Sakuya Bescheid? Oder war es sein Vorschlag? Ich konnte deutlich spüren, wie Kuro mir gequälte Blicke zuwarf. Untätig stand ich da, bis mich das Räuspern des Polizisten zurück in die Gegenwart riss. Peinlich berührt erwachte ich aus meiner Starre und eilte ins Haus, um das Nötigste in meine große Reisetasche zu stopfen.
In meinem Zimmer angekommen hielt mir Kuro die Tasche auf, während ich packte. „Warum Sakuya? Warum dieser eifersüchtige Jammerlappen?" Zischte er wütend zu sich selbst. In meinem Kopf schwirrten etliche Gedanken. Warum sollte Sakuya wollen, dass wir zu ihm kommen? Was, wenn er vorhat, Kuro etwas anzutun? Oder wollte er sichergehen, dass ich ihn nicht bei der Polizei verriet? Ich war mir unsicher, was ich tun sollte. Sakuya war mein Freund. War oder ist er mein Freund? Er ist ein Psychopath, der glaubt, er hätte mir etwas Gutes damit getan, meine Tante umzubringen. Wenn ich ihn verrate, wäre die Welt vor ihm sicher. Und ich hätte ihn endgültig als meinen besten Freund verloren. Mein Gewissen schien mich zu erdrücken.
Kuro schien meine Unruhe zu spüren. Er fing mich ab, als ich an ihm vorbeihetzen wollte, um nach meinem Ladekabel zu suchen. „Hey, beruhige dich, Stress macht mich sowas von fertig..." Ich atmete tief durch. Kuro sah mir ernst in die Augen. „Sakuya ist ein riesiger Idiot, wenn du mich fragst, du solltest auf jeden Fall zur Polizei gehen... Wir können auch Lilly fragen, ob wir nochmal übernachten können..." Überrascht sah ich ihn an. Seit wann macht Kuro sinnvolle Ratschläge? Auf meinen fragenden Blick hin bekam er einen verlegenen Gesichtsausdruck. Er wollte etwas sagen, stockte aber. Dann holte er entschlossen tief Luft und sprach das aus, was ihm durch den Kopf zu gehen schien. „Misa, ich weiß, dass an diesem einen Tag eine Menge passiert ist und dass es schwer ist, mit all dem umzugehen... aber ich bin dein Servamp und ich werde immer für dich da sein. Falls du reden willst oder sonst was. Ich bin oft verpennt und geistig abwesend, aber... ich will nur, dass du weißt, dass du mit all dem nicht alleine bist." Nervös kratzte er sich am Kopf und tastete seine Taschen nach seinem Nintendo ab, den er sich, scheinbar sehr vertieft, vor sein errötendes Gesicht hielt und wie ein Wilder auf den Tasten herumdrückte. Lächelnd und kopfschüttelnd zog ich den Reißverschluss meiner Tasche zu, in die Kuro noch eine Packung Chips und Ramen geschmuggelt hatte. Er war ein sonderbarer Typ, aber ich mochte seinen Charakter.
Mit Kuro auf der Schulter schleppte ich die Tasche nach draußen, wo sie in den Kofferraum verfrachtet wurde. Kuro nahm ich mit nach vorne auf meinen Schoß, dann knallte ich die Autotür zu. Innerlich bereitete ich mich auf ein Wiedersehen mit Sakuya vor, denn jetzt gab es kein Zurück mehr.