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Der Duft von Sommer hängt in der Luft und ich schließe genüsslich die Augen, als ich den Geruch von frisch gemähtem Gras und Regen tief einatme. Es gießt wie aus Eimern und ich sitze unter einem kleinen Holzunterstand im Volkspark Hasenheide, während um mich herum ein heftiges Sommergewitter tobt.

Es war wohl doch eine schlechte Idee jetzt joggen zu gehen. Noch etwas außer Atem zupfe ich mir meine Stöpsel aus den Ohren, um dem Regen zu lauschen. Es ist früh am Morgen und noch nicht viel los. Sonst wäre ich hier sicher nicht so allein unter diesem Holz-Pilz. Lediglich die afrikanischen Mitbürger, die einem wenig grüne Glückseligkeit gegen viel Geld verkaufen sind auch schon hier und bombardieren mich mit Blicken, in der Hoffnung ich gehe zu ihnen herüber und kaufe mir so ein überteuertes Päckchen. Aber dafür bin ich jetzt nicht hier.

Wieder sehe ich Blitze durch die Baumkronen zucken, gefolgt von einem tiefen und dunklen Donnern. Aber es erschreckt mich nicht. Ich liebe Gewitter. Es erinnert mich immer an meine Kindheit. Meine Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, mir und meiner Schwester die Naturgewalten zu erklären. Schließlich darf ein Kind vom Land keine Angst vor Gewitter haben, haben sie gesagt und so kam es im Sommer oft vor, dass wir nachts bei Gewitter geweckt wurden und draußen vor dem Haus, geschützt im Auto die Nacht verbrachten. Es war eine toll Zeit und schmunzelnd erinnere ich mich daran zurück, als die nächsten Blitze am Himmel zucken.

»Hast du gar keine Angst«, fragt mich plötzlich eine tiefe, aber angenehme Stimme und ich zucke zusammen. Ich habe es gar nicht gemerkt, dass sich jemand neben mich gesetzt hat, weil ich so interessiert in den Himmel gestarrt habe. Ich senke meinen Blick zu der Stimme und sehe in zwei grüne Augen. Zwei wunderschöne grüne Augen und ich kann im ersten Moment überhaupt nicht antworten. Da kommt wieder die Schüchternheit bei mir durch.

»N-nein. Ist doch nur Gewitter... ich mag Gewitter«, antworte ich nach einem Räuspern. Mein Gegenüber schmunzelt und nickt zustimmend. Viel zu lange schaue ich ihn mir an, mustere ihn. Braune, vom Regen tropfende Haare, die zerzaust sein Gesicht umrunden, eine gerade, fast perfekte Nase und ein paar Lippen, wo ich mich sofort frage, wie es wohl wäre, sie zu küssen. Doch am fesselndsden sind die grünen Augen.

»Alles okay bei dir?«, fragt er und beugt sich ein Stück zu mir vor. Wieder blicke ich in diese tollen Augen mit den langen dunklen Wimpern. Ich bin völlig durcheinander. Das ist das Ergebnis, wenn man - wie ich, die schüchterne Unschuld vom Lande - in die Großstadt zieht. Wenn man nicht jeden kennt, weil man ihm nicht seit Kindheit an täglich begegnet ist. Ich hasse mich dafür, dass ich so schüchtern bin. Jetzt werde ich schon angesprochen, und bekomme kein Wort heraus.

Mein Gegenüber steht auf und zieht sich plötzlich sein T-Shirt über den Kopf. Jetzt kann ich noch weniger sprechen. Er sieht umwerfend aus. Seine Jogginghose sitzt perfekt auf seinen Hüften und seine Muskeln tanzen unter seiner Haut, als er sein Shirt auswringt. Ich setze immer wieder an etwas zu sagen, doch es bewegen sich nur kurz meine Lippen, als er mich noch einmal freundlich anlächelt, bevor er sich sein Shirt wieder überstreift und davon joggt.

Ich könnte mich ohrfeigen. Warum hätte ich nicht wenigstens ein 'ja' sagen können? Wenn Nico dabei gewesen wäre, hätte er ihn ohne Probleme in ein Gespräch verwickelt. Er ist das totale Gegenteil von mir. Offen, selbstbewusst und etwas verrückt. Er passt so 100% in diese Stadt, ich eher nicht. Doch ich brauchte Veränderung und ich wollte eine Zukunft. Nicht auf dem Dorf versauern. Wir kommen beide aus einem kleinen Dorf nahe Strausberg, also gar nicht sooo weit Weg von Berlin. Dennoch kann der Unterschied gar nicht großer sein, wenn man beide Orte vergleicht. Berlin eine Millionenstadt, Gielsdorf... okay lassen wir das.

Nico und ich sind vor vier Monaten hier her gezogen, haben uns zusammen eine gemütliche drei-Zimmer-Wohnung in Neukölln Nahe der Hermannstraße angemietet und schlagen uns ganz gut. Nico studiert Medizin, ich jobbe in einer Bar und suche nebenbei einen festen, normalen Job, denn eigentlich habe ich Industriekauffrau gelernt und würde darin auch gern wieder arbeiten. Nicht, dass das Arbeiten in der Bar mir nicht gefällt, aber ich würde doch gern lieber tagsüber arbeiten.

Falsch gedacht! [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt