05. Dimension

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Ich weiß inzwischen nicht mehr, wie spät es ist. Der Himmel ist schwarz, die Torte aufgegessen und die Sektflasche, die meine Mutter uns spendierte, fast leer getrunken. Wir sitzen seit einer Ewigkeit auf der Couch in unserem Wohnzimmer und reden über die Zeiten, als Claire und ich noch zusammen in dem kleinen, aufblasbaren Gartenpool zusammen geschwimmt haben. Jetzt fängt Mom an mit meiner Schwester über den Kerl zu lästern, den sie wohl neulig zusammen in der Bahn gesehen haben.
"Der war aber auch ein Schnittchen. Perfektes Schwiegersohnmaterial. Nur die großen Ohrlöchter hätte er weg lassen sollen." erzählt sie leicht beschwibst und Claire kann ihr Lachen nicht mehr zurück halten. Wärenddessen denke ich über Alexander nach. Ich weiß nicht warum, doch dieser Mann geht mir nicht aus dem Kopf. Ich habe das Bild vor Augen, wie er vor mir sitzt und mich einfach nur ansieht mit seinen blauen, fast grauen Augen. Seine Lippen, geschmückt von einem leichten Bart, bewegen sich und seine Stimme vibriert in meinen Fingern. Ethan jedoch holt mich aus meiner Starre, indem er seine Hand auf meinem Schenkel platziert und ihn sanft mit seinem Daumen streichelt.

"Ist alles ok?" fragt er mich. Ich nicke.
"Ja, es war nur ... Nicht wie ich es mir vorgestellt habe."
"Sicher wird dich dein Chef noch lernen zu mögen. Lass ihm Zeit." lächelt er und jedes Bild von Jones in meinem Kopf, wird von ihm ersetzt. In der Zeit, seit wir uns kennen gelernt haben bis jetzt, hat er sich sehr verändert. Ich mustere langsam seine Gestalt. Die Schuhe sind sauber, die Löcher in seiner Hosen sind weg und der schmutzige Kapuzenpulli ist ersetzt durch ein schlichtes, weißes Shirt. Seine Augen sind nicht mehr dauerhaft rot sondern strahlen in einem hellen Blau und glänzen mit seiner blonden, gepflegten Mähne um die Wette. Als ich ihn kennen lernte, sah er nicht so gut aus. Nicht so gesund. Nicht so nüchtern.

"Bitte sieh mich nicht so an, Charlie." bittet er mich. Hat meinen sich zügelnden Blick bemerkt.
"Tut mir leid. Ich musste an die Zeit denken, in der du noch ..."
"Auf Drogen warst?" beendet er meinen Satz mit einem unangenehmen Kratzen in seiner Kehle.
"Ich bin clean, seit du mich vor ein paar Monaten bei mir aufgefunden hast. Durch dich konsumiere ich nichts mehr, Charlie. Bitte denke nicht an die Zeit zurück, als es noch so war." bittet er mich, doch seine damals tiefen Augenringe und die zitternden Hände werden mir für immer im Gedächnis bleiben.


"Vermisst du es?" frage ich ihn nun aufrichtig und vergesse alles um uns herum. Die Musik, das Gelächter. Es ist düster geworden mit den Errinerungen in unseren Köpfen. Seine Hand ist komplett verkranft.

"Ich würde gerne nein sagen, Charlie. Glaub mir." gesteht er mit gesenktem Blick.
"Es gibt Nächte, in denen ich noch immer schwitzend in meinem Bett liege und mir wünschte, ich könnte eine Pille nehmen, die mich von meiner Last befreit." Seine Lippen ziehen sich zusammen und er drückt fester meinen Schenkel.

"Doch ich weiß, dass es nicht helfen würde. Und das ich dich dadurch verlieren könnte gibt mir den Zuspruch, nie wieder damit anzufangen." Er lächelt. Seine Lippen zittern, als ich sie betrachte doch anstelle meines Blickes landen meine Lippen darauf. Mit einem erleichterten Seuftzer gibt er sich dem Kuss hin und wir verschmelzen, wie bei jedem unserer Küsse, zu einer Person. Verschwinden in eine Welt, in der die Zeit nicht existiert. Doch leider existiert hier noch immer die nervige Verwandtschaft

"Lasst uns in einen Club gehen!" kreischt meine beschwipste Mutter und schießt ihr Sektglas in die Höhe, so das ein paar Tropfen über den Tisch spritzen.

"Wie heißt nochmal dieser Laden, in den ihr immer geht? Universum?"
"Dimension." berichtig sie Claire und ich werfe ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie zuckt nur selbstgerecht mit den Schultern.
"Ah, ja! Genau!" quietscht Mom breit grinsend.
"In den wollte ich schon immer mal! Also los!" Sofort steht sie auf und schwankt zu der Garderobe im Flur, wo sie sich ihren blauen Mantel raus pickt. Mit einem tiefen Seuftzer von uns allen heben wir unsere müden Knochen und lassen uns doch bereitwillig auf den Vorschlag meiner Mutter ein. Allesamt ziehen sich Mantel und Schuhe an und spatzieren raus zum Auto, welches Ethan bereit erklährt zu fahren. Ich nehme auf dem Beifahrersitz platz und lasse die zwei geschwätzigen Mädels sich hinten über Schauspieler austauschen. Mom schwärmt über die Augen von Nicholas Cage und Claire über die Grübchen von Harry Styles.

Bei jeder roten Ampel, bei der der Wagen hält, drückt Ethan meine Hand und sieht mich mit seinen großen Augen an, als hätten wir uns zum ersten Mal unsere Liebe gestanden. Es fühlt sich so an, als wäre es wie vor fast sechs Monaten, als er es mir zum ersten Mal sagte. Er zierte sich, meinte diese Worte nie gesagt zu haben. Doch er hielt diesen Abend, in dem wir schon Tage lang nicht getrennt voneinander sein konnten, für den passendsten. Und jedes mal, wenn er diese drei Worte wiederholt, brodelt das selbe Gefühl in meiner Brust.

Die Lichter der Straßenlaternen ziehen an unserem Auto vorbei und sanfte Elektro-Sounds schallen durch das Radio, bis wir letzendlich in eine düstere Straße einparken und ausstreigen. Das blau leuchtende Neonschild strahlt uns schon vom Weiten an. Das Dimension ist der einzige Schwulenclub, der nicht etwas wie einen Dark Room besitzt und in dem es nicht nur um Sex und Drogen geht, sondern um den Spaß am Tanzen und deshalb ist es mein Liebster. Mutter ist ganz hibbelig, als der Türsteher uns durch lässt und wir durch die großen Türen herein spatzieren und beschallt werden von dumpfen Bässen und flackernden, bunten Lichtern. Männer und Frauen tanzen und küssen sich auf der Tanzfläche, andere sitzen an der Bar und unterhalten sich und einige feuern die tanzenden, leicht bekleideten, gut gebauten Männer auf der kleinen Bühne an. Mom quietscht wieder einmal vor Vorfreude und begibt sich gleich ins Getümmel. Schleift Claire mit sich, die sich wiederrum wenigstens mit einem Winken von uns verabschiedet und dann in der Masse verschwindet.

"Ich war lange nicht mehr hier." meint Ethan mit gierigem Blick. Dann fasst er sich wieder und wendet sich mir zu.
"Was möchtest du trinken? Ich bezahle." grinst er.
"Ehm ..." Ich überlege.
"Eine Cola?" antworte ich letzendlich, mehr wie eine Frage formulierend. Er nickt und lässt mich dann alleine. Ebenso wie er sind auch bei mir schon einige Wochen , vielleicht auch Monate, vergangen, seit ich das letzte mal im Dimension war. Es sieht noch genauso aus, wie in meiner Errinerung, und es riecht auch so. Nach Schweiß und Alkohol. Mann, habe ich das vermisst. Ich beschließe, mich trotzdem nach ein paar Änderungen umzusehen und schweife still durch den Saal. Die Scheinwerfer blenden mich, darum halte ich mir schützend meine Hand wie eine Cap über meine Augen und versteife, als ich erkenne, was sich in mitten der Tanzfläche, nur ein paar Meter vor mir, abspielt. Ein paar mal zwinkere ich und reibe meine Augen in der Hoffnung, dass sie mich vielleicht täuschen doch mein Verstand sagt mir, dass es wahr ist.

Genau vor mir erkenne ich einen rothaarigen, jungen Mann ohne Oberteil und ohne Charm, wie es aussieht. Und eng an ihn geschmiegt erkenne ich die mir bekannten, braunen Haare und den glatten Bart. Das an den Seiten schlabbernde, weiße Hemd und die muskulösen, um den Fremden rangelnden Arme. Alexander Jones, der gierig mit seinen Händen durch die roten Haare fährt, seinen Unterkörper fest an den Anderen presst und seine Lippen und seine Zunge wild und reudig massieren lässt. Er genießt es in vollen Zügen. Und nun geht mir endlich, als sei es nicht schon offensichtlich, ein Licht auf. Alexander Jones ist nicht sauer, weil ich schwul bin. Er fühlt sich bedroht. Er ist selbst schwul.

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