06. Inconveniences

3K 194 9
                                    

Ich hätte wahrscheinlich noch eine Ewigkeit dort hin gestarrt und mir ausgemalt, was passieren würde wenn er wüsste, dass ich nun sein Geheimnis kenne. Offensichtlich ist, dass er seine Homosexualität verbirgt denn ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Ehefrau von den Abenden weiß, die er sich in Clubs wie Diesen rumtreibt. Und wenn er erfährt, dass ich bescheid weiß, bin ich schneller gefeuert, als ich denken kann.

Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum er sich nach meinem versehentlichen Outing so komisch verhielt. Es war die Angst, ich könnte heraus finden das er schwul ist und ihn verraten. Bestimmt hat er meine Kündigung bereits abgetippt und schickt sie morgen früh raus. Doch ich weiß, dass ich das nicht auf mir sitzen lassen würde. Mein erster Schritt geht nach vorne, doch eine Hand packt mich an der Schulter. Ich drehe mich um und erkenne Ethan, der mit meinem Getränk in der Hand auf mich wartet. Verunsichert schaut er in die Richtung, in die ich sehe.

"Hast du wen gesehen, den du kennst?" Sofort schüttle ich meinen Kopf. Ich könnte Ethan sagen, dass dort mein Chef steht und tanzt. Der Selbe, der mich vor einigen Stunden noch fast zum weinen gebracht hat. Doch aus irgendeinem Grund entscheide ich, es erst einmal für mich zu behalten.

"Nein, ich war nur fasziniert von so manchen Tanzeinlagen." log ich lächelnd. Er lacht mit und gemeinsam, ohne einen weiteren Blick nach hinten zu riskieren, setzen wir uns am anderen Ende des Clubs auf ein paar freie Plätze. Ich konnte bereits meine Mutter ausmachen, die umzingelt von femininen Männern an einem Tisch sitzt und angefeuert wird, während sie sich einen Shot nach dem Anderen in den Rachen schüttet. Ich glaube, ich habe meine Mom noch nie so betrunken gesehen. Auch Claire scheint so langsam die Nase voll zu haben, streicht sich erschöpft mit den Händen durchs Gesicht und kommt auf uns zu.

"Die Frau hat sie nicht mehr alle." kichert sie beschämt. Auf einmal springt sie kurz auf, als wäre ihr etwas eingefallen.
"Charlie, wir haben vorhin vergessen, dir etwas zu geben." meint sie und holt ihre Handtasche auf den Schoß. Anscheinend weiß Ethan, worum es geht und rückt ein wenig aufgeregt auf seinem Sitz hin und her. Claire holt ein verpacktes Geschenk mit Schleife aus der Tasche und überreicht es mir mit einem breiten lächeln.

"Ein Geschenk? Ich habe doch erst in ein paar Monaten Geburtstag." meine ich verwirrt.
Das rote Plastik in meiner Hand fühlt sich an, als würde es etwas schweres umhüllen. Es ist groß und breit und eckig und wenn ich nicht jeden Tag soetwas wie das hier in meinen Händen halten würde, wüsste ich wahrscheinlich gar nicht, dass es sich um ein Buch handelt.

"Wir wollten nicht mehr warten und heute ist die Stimmung feierlich genug, um dir ein Geschenk zu machen, kleiner Bruder." Sie wuschelt mir, wie einem Hund, durch die Haare.
"Na los, pack es schon aus!" Anscheinend hat auch sie, bei der Aufregung, bereits ein wenig Alkohol getrunken. Ich gebe mich geschlagen und reiße das Geschenkpapier auf. Darin verbirgt sich etwas, was ich wirklich nicht erwartet hatte.

"Oh mein Gott." stammle ich und starre auf das Buch in meinen Händen.
"Turney Duff's 'The Buy Side'. Kriegt man das nicht nur in Osteuropa?" Nun ist meine Aufregung mindestens auf dem selben Level, wie von den beiden. Sie schenken mir tatsächlich ein Buch über die Wallstreet. Ich habe fast alle wichtigen literarischen Werke in meinem Bücherregal doch dieses ist es, an welches ich nie ran gekommen bin. Ich kleiner Bücher-Nerd habe endlich meine Sammlung komplett!

"Ja, das ist wahr, aber Ethan kennt da einen, der einen kennt, der einen kennt und so weiter. Wir haben es dir vor Tagen hier her importieren lassen und da du jetzt sogar offiziell in der Wallstreet arbeitest, wollten wir nicht mehr bis zu deinem Geburtstag warten. Jetzt kannst du deine Kollegen unter den Teppich klugscheißern!" lacht meine Schwester und ich kann nicht aufhören, auf dieses wunderschöne Cover zu starren.

MODERN AFFAIRWo Geschichten leben. Entdecke jetzt