30. Leatherjacket (Teil 2)

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"Das schmeckt wirklich fantastisch." versucht Alexander höflich zu sein um das eindeutige Unbehagen zu verstecken und steckt sich ein Stück des saftigen Fleisches zwischen die Zähne.

"Oh, vielen Dank. Das freut mich." lächelt Mutter mit rot gewordenen Wangen.
"Und schmeckt es dir auch, Liebling?" fragt sie mich nun mit einem erwartungsvollen Blick. Ich nicke nur und stopfe schnell eine Gabel in meinem Mund denn ich schätze, wenn ich jetzt etwas sagen müsste, würde nicht mehr als ein Stottern heraus kommen.

Ich habe Mutter noch nie etwas verheimlicht, deshalb bin ich so unglaublich nervös. Wenn sie wüsste, das Alexander so viel mehr ist, als mein Arbeitsgeber, wäre sie sicher enttäuscht von mir und ich glaube, das würde ich nicht ertragen. Und nur die Vorstellung davon, Mom zu enttäuschen, lässt mich am ganzen Leibe zittern.

Alex scheint nicht so nervös zu sein, wie ich. Oder er ist einfach besser darin, es zu überspielen.
Das Essen ist halb aufgegessen und die Freiheit rückt immer näher, als wir Schritte auf der Treppe hören. Als ich aufblicke um zu sehen, wer runter kommt, gefrieren mir die Adern.

Ethan ist hier.

Hinter meiner Schwester läuft er die Stufen hinab und scheint uns nicht zu bemerken, bis er unten ankommt. Als er dann stehen bleibt und endlich seinen Blick hebt, bleibt mir das Herz stehen. Seine blauen Augen sehen direkt in meine, doch er verzieht keine Miene. Nichtmal, als sein Blick zu Alexander schweift, der in jeder Bewegung inne hält. Der Schock sitzt tief.

"Gut, dass ihr runter kommt - es gibt Essen." begrüßt meine Mutter die beiden und holt aus dem Schrank zwei saubere Teller.
"Danke, wir haben keinen Hunger." sagt Claire und hält Ethan am Handgelenk, um ihn geradewegs zur Haustür zu ziehen.
"Claire Dunn, setz dich an den Tisch. Wir haben einen Gast." schlägt Mutter ihren harten Tonfall an, dem meine Schwester und ich nicht wiedersprechen können. Claire zögert und sieht ihren besten Freund an, scheint dann etwas zu flüstern was wir nicht verstehen. Darauf folgt ein seichtes Nicken von Ethan und wiederwillig betreten sie die Küche.

Für einen Moment vergesse ich zu Atmen, als Ethan und Claire sich Alex und mir gegenüber setzen. Es fühlt sich an, als seien wir auf einem Schlachtfeld und sie sind die feinliche Seite.
Mutter belädt ihre Teller mit Fleisch, Gemüse und Kartoffeln und Ethan weicht jedem meiner Blicke aus. Erst jetzt fällt mir etwas auf, was mir von Anfang an komisch erschien.

Ethan trägt seine Lederjacke nicht.

Immer, wenn ich an Ethan und gemeinsame Momente mit ihm zurück denke, sehe ich seine Lederjacke. Die zerrissene,  schwarze Lederjacke mit den aufgenähten Stickern. Doch er trägt sie nicht mehr. Stattdessen trägt er einen Pulli mit verwaschenem Schriftzug darauf. Es sieht so ungewohnt aus. Es passt nicht zu ihm. Er wirkt nicht mehr wie der alte Ethan.

"Und, wie lange sind sie schon verheiratet, Mister Jones?" versucht Mutter zwanghaft ein Gespräch am Laufen zu halten. Erst nach ein paar Sekunden scheint Alexander zu bemerken, das er gerade angesprochen wurde und räuspert sich dann kurz. Er war selbst in der Ruhe gefangen, die so unerträglich erscheint.
"Ehm, etwa zwei Jahre." beantwortet er halbherzig ihre Frage.
"Und wie haben sie sich kennengelernt?"
"Arbeit."
Anscheinend kann nun auch Alex seine Nervosität nicht mehr verbergen. Ich wage es und greife unter dem Tisch nach seiner Hand, um ihn zu beruhigen. Erschrocken sieht er für eine Sekunde zu mir auf und zieht dann seine Hand weg. Es verpasst mir einen Stich ins Herz, als er das tut - bis ich dann bemerke, was ich getan habe.

Die kalten Augen von Ethan treffen auf meine. Sie sind so grau. Sein Kiefer ist angespannt und seine Hände umgreifen das Besteck, so fest, das die Knöchel weiß anlaufen.
Fuck.
Ich kann gar nicht komplett realisieren, was passiert, als Ethan aufsteht, und das silberne Besteck hinter ihn an die Wand schleudert. Alle am Tisch stehen erschrocken auf und sehen zu dem blonden Jungen, dem jegliche Kontrolle über sein Handeln entgleitet.

Mit Wut geladenem Gesicht schreitet er um den Tisch, hebt seine geballte Faust und schlägt sie mit voller Kraft gegen Alexanders Kiefer. Der Kopf des Anzugträgers schallt zur Seite und sein Gesicht verzieht sich vor Schmerz. Er schaft es gerade noch so, sich aufzurichten, bevor Ethan erneut seine Hand gegen ihn erhebt. Ein zweiter Schlag trifft den Geschäftsmann, dann jedoch schubst er den wütenden Jungen zur Seite gegen die Couch.

Ethan scheint das nicht zu reichen, also stürmt er mit dem Kopf voran auf Alexander zu und sie fallen gemeinsam zu Boden. Mit schwerem Stöhnen rangeln sie, ziehen sich an den Haaren und quetschen ihre Gelenke und Alexander schafft es, ihn von sich runter zu rollen und sich auf ihn zu setzen. Doch nicht lange, denn Ethan greift sich ein auf dem Boden liegendes Buch und wirft es Alex gegen die Stirn.

Es passiert alles so schnell und ich möchte eingreifen, doch egal wie kurz mir dieser Moment vorkommt; es scheint alles irgendwie in Zeitlupe zu passieren.

Der Braunhaarige hält sich die schmerzende Stelle mit der Hand und wird dann auf den Rücken geworfen, woraufhin der Blonde sich auf seine Brust setzt.

Jetzt scheint Claire ihren Atem wiedergefunden zu haben und fasst Fuß, um Ethan unter den Armen zu packen und von dem blutenden Anzugträger weg zu ziehen. Von mir gibt es noch immer kein Lebenszeichen. Ich bin gelähmt.

"Verdammt, hör auf!" brüllt sie, weil Ethan versucht sich mit zappelnden Armen und Beinen zu wehren. Claire hält ihn fest, während er auf Alex hinab schaut, der sich schwer damit tut, sich wieder aufzurichten. Er leckt sich über die Wunde an der Lippe und tupft die blutende Stelle an seiner Braue. Das Weiße in seinem rechten Auge ist von roten Äderchen verziert, als er langsam aufsteht. Gerade will ich zu ihm gehen, als er beschließt, etwas falsches zu tun.

Jeder Moment scheint wie jener, als ich Alex zum ersten Mal in dieser Verfassung sah. Für einen Augenblick sah er aus wie das zerbrochene, auf der Straße liegende Elend, was ich am Abend unseres Clubbesuches vorfand. Jedoch wehrte er sich an diesem Abend nicht.
Er hat eine falsche Entscheidung getroffen als er sich dazu entschied, dies jetzt nachzuholen.

Mit knirschenden Zähnen geht er auf Ethan zu, hebt seine Faust und schlägt sie ihm direkt zwischen die Augen. Erschrocken quietschend springt Claire zur Seite und hält sich den Mund, als Ethan mit geschlossenen Augen nach hinten fällt. Spucke, gemischt mit seinem Blut, spritzt ihm aus dem Mundwinkel, als er mit dem Kopf auf dem Boden aufkommt.
Ich bin nicht mehr der Gelähmte, sondern er.

Nun ist es komplett ruhig. Eine Stille umhüllt den Raum, die so unangenehm ist wie die stickige Luft hier drinnen. Ich höre nur das keuchende Atmen von Alexander - einem Mann, der mir in diesem Moment völlig Fremd scheint.

"Raus aus meinem Haus!" brüllt meine Mutter und stampft richtung Tür um diese zu öffnen und zu signalisieren, das Alexander verschwinden soll. Dieser scheint langsam in der Realität anzukommen und sieht erschrocken auf den bewusstlosen Ethan hinab, dessen Kopf sampft von meiner schluchtzenden Schwester angehoben wird. Dann sieht Alex zu mir mit einem undefinierbaren Glänzen in seinen Augen. Und ich sehe zurück. Doch ich sage und tue noch immer nichts.

"Los, verschwinden sie." befiehlt Mutter ein zweites Mal. Mit gesenktem Kopf greift Alexander sich sein Jackett in der Garderobe und ohne einen weiteren Blick über seine Schultern - ohne ein weiteres Wort zu mir - verlässt er das Haus.

Ich fange gerade wieder an zu Atmen, als Ethan seine Augen öffnet. Claire vergeudet keine Zeit, packt seinen Arm um ihren Hals und hilft ihm dabei, sich aufzurichten. Ich höre Alexanders Wagen davon fahren und sehe Ethan dabei zu, wie ihm auf die Couch geholfen wird, doch ich schaffe es noch immer nicht, mich wieder zu bewegen.

Habe gerade erst meinen Atem gefunden. Es ist zu früh für Taten.

Erst, als ich Mutters Hand auf meiner Schulter spüre schaffe ich es, meinen Kopf zu neigen und in ihre braunen Augen zu sehen. Und ich sehe Besorgnis.
"Komm, ich mache dir einen Kaffee."

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