09. Lies

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Es blieben mir drei Stunden, in denen ich hätte schlafen müssen, doch ich konnte nicht. Die ganze Nacht über lag ich wach und habe an die Decke gestarrt. Der Sonne beim Aufgehen zugesehen. Jetzt ist es fast sieben Uhr morgens, Ethan schläft friedlich neben mir und ich stehe auf, um mich auf den Tag vorzubereiten. Trotz der langen Denkzeit weiß ich nicht, wie ich mich heute in der Firma verhalten soll. Wie ich mit dem, was letzte Nacht passierte, umgehen soll. Ich schätze, ich werde es einfach auf mich zukommen lassen.
Meine Füße bringen mich ins Badezimmer, wo ich als erstes meine Zähne putze und meine tiefen Augenringe betrachte. Sie sind fast so dunkel wie meine Augen selbst und meine Haare stehen ab in alle Richtungen, obwohl ich die meiste Zeit über nur still da lag.
Das heiße Wasser der Dusche bändigt sie und das feuchte Nass läuft meinen Körper hinunter. Erst jetzt bemerke ich, wie schmutzig ich mich gefühlt habe. Und die Träne, die ich die Nacht über zurück halten konnte, fließt nun über meine Wange und vermischt sich mit dem klaren Wasser, das über mein Gesicht ströhmt. Es fühlt sich gut an, diese Last von mir zu werfen.
Die Bilder verschwinden trotzdem nicht aus meinem Kopf. Ich sehe vor meinen Augen wie Alex über mir lag und mich anlächelte. Spüre noch immer den Abdruck seiner Lippen auf meinen. Fühle noch immer seine warme Haut auf meiner. Und aus irgendeinem Grund fühlt es sich nicht schlecht an. Es ist schön.
Langsam stelle ich das Wasser wieder hab und höre, wie vor der Badezimmertür ein paar Schritte  auf mich zukommen. Jemand klopft.
"Babe, bist du da drin?" fragt Ethan. Er ist aufgewacht.
"Ja, ich ... Ich komme gleich." sage ich und steige aus der Dusche aus, rubbel mich trocken und ziehe mir dann meine Boxershorts wieder über, bevor ich zurück ins Schlafzimmer tappel. Ethan trägt noch immer die Klamotten von gestern Abend und sitzt augenreibend auf meinem Bett.
"Wieso bist du denn schon wach? Du hättest ruhig ausschlafen können." Ich errege erst jetzt seine Aufmerksamkeit und verschlafen, mit halb geöffneten Augen sieht er mir dabei zu, wie ich zu meinem Kleiderschrank herüber gehe und mir halbwegs tragbare Anziehsachen raus suche.

"Wo ist dein Hemd?" fragt er mich auf einmal und ich spüre, wie mein Herz zur Seite springt.
"Was meinst du?" frage ich in der Hoffnung, dass er das Thema vielleicht abwürgt.
"Dein Hemd. Was du gestern Abend an hattest. Ich sehe es nicht." Ich kann eindeutig eine Vermutung heraus hören. Doch darauf lasse ich mich nicht ein. Ich erfinde einfach irgendwas.
"Jemand hat drauf gekotzt. Ich habe es weg geschmissen." sage ich. Ethan schmunzelt.
"Bist du dir sicher, dass du es nicht irgendwo vergessen hast?" Weiß er es? Weiß er, das ich Gestern bei einem Anderen war? Das ist unmöglich.

"Ja, ich bin mir sicher, Ethan. Ich werde mir jetzt einen Kaffee machen, falls dich das nicht stört." Ich ziehe mir mein Jackett über ein schlichtes, blaues Shirt und hoffe, das ich damit halbwegs durchkomme und verlasse dann ohne eine weitere Mimik mein Zimmer.
"Du bist gestern sehr spät nach Hause gekommen, Charlie!" Er springt auf und läuft mir hinterher die Treppen hinunter und ich fange allmälig an wirklich nervös zu werden. Jedoch gehe ich nicht drauf ein sondern schnappe mir den Wasserkocher und fülle ihn mit Leitungswasser. Ethan stützt sich auf dem Küchentisch ab und starrt mich an, als wäre er ein Vater der grade seinen Sohn beim Lügen erwüscht hat. Ich hoffe, meine Definition trifft nicht zu.

"Ich habe dich gestern die Treppen hoch rennen sehen, als wir wieder gekommen sind. Dann hast du so getan, als würdest du schlafen." Grade fülle ich den Kaffee in den Filter, als sich meine Finger verkrampfen und mir der Löffel neben die Füße fällt. Angestrengt von dem schnellen Herzpochen reibe ich mir über's Gesicht, bevor ich mich meinem Freund zuwende, der ohne eine Miene zu verziehen einfach da steht und mich klein macht.

"Worauf willst du hinaus, Ethan?" frage ich nun einfach, um den ganzen so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten, bevor ich noch eine Panikattacke kriege.

"Ich habe gestern Abend keine Polizeisirenen gehört. Sollte man die nicht hören, wenn die Polizei da ist und grade jemanden fest nimmt? Wo warst du gestern wirklich, Charlie?"

"Oh mein Gott, du machst mich fertig." lache ich, ohne humor. Ich schalte den Kocher aus und komme Ethan mit gehobenen Schultern entgegen.

"Du hast keine Sirenen gehört, weil da ein Polizist war, Ethan. Ein einziger Polizist, der an dem Abend selbst Party gemacht hat und dann zwei Männer sah, die sich halb tot schlugen. Er nahm sie fest und fuhr uns alle mit seinem eigenen Wagen zum Polizeirevier, wo wir die meiste Zeit damit verbracht haben zu warten. Deshalb, und weil keine Busse mehr fuhren, kam ich erst sehr spät nach Hause. Und ich war genervt, Ethan. Ich hatte keine Lust mich mit irgendwem - auch nicht mit dir - zu unterhalten, alles klar? Deshalb habe ich so getan, als würde ich schlafen. Reicht dir das als Antwort?" Wutentbrannt stampfe ich davon und sobald er mein Gesicht nicht mehr sieht läuft wieder eine Träne über mein Gesicht. Wann bin ich zu so einem Lügner geworden?
Ich muss es durchziehen. Sonst verliere ich ihn.
Ich laufe zum Hauseingang und ziehe mir dort meine Schuhe über.

"Warte Charlie, du kannst jetzt nicht gehen." Ethan hält mich an der Schulter und klingt in der Stimme bereits weniger sauer. Glaubt er dem, was ich sagte?
"Doch. Ich muss jetzt zur Arbeit."
"Lass mich dich fahren."
"Ich nehme den Bus."
"Charlie-"
"Ethan, Bitte." Mit dem Rucksack auf dem Rücken drehe ich mich zu ihm um. Sehe direkt in seine glasigen, blauen Augen. Und als ich ihn so ansehe kann ich nicht anders, als meine Hand in seinen Nacken zu legen und sein blondes Haar zu umfassen.
"Ich liebe dich, Ethan. Das weißt du, oder?" frage ich und unter meiner Berührung schließt er die Augen und nickt. Mein Daumen streichelt seinen Nacken, als ich mich vorbeuge und ihn küsse. Es fühlt sich ganz anders an, als bei Alexander. So warm. So vertraut. Und doch lasse ich wieder von ihm los und gehe.

Ich weiß, das er mir hinterher sieht, doch ich drehe mich nicht um. Sonst würde er erkennen, das was nicht stimmt. Er würde es sehen an meinen nassen Augen, meinen fletschenden Zähnen und den zitternden Fingerspitzen. Ich stecke mir einfach meine Kopfhörer in die Ohren, höre meinen liebsten Song von The Beatles und warte auf den Bus. Mein Herz klopft noch immer rasend schnell.

Es vergeht eine lange Zeit, in der ich im Bus sitze und versuche nachzudenken. Doch mein Kopf ist komplett leer. Zuviele Gedanken haben sich gesammelt und sind implodiert, so das ich jetzt nichts weiter machen kann, als aus dem Fenster zu starren und meinen Gefühlen inne zu halten. Ich schäme mich. Zu tiefst. Und dennoch fühlt es sich nicht falsch an, was ich letzte Nacht getan habe. Ich sollte mich dreckig fühlen, doch ich tu's nicht.

Bald dann hält der Bus vor dem riesigen, aus Glasfenstern bestehenden Bürogebäude. Die Sekretärin begrüßt mich nicht sondern starrt gebannt auf ihr Handydisplay, also spatziere ich gradewegs zum Fahrstuhl, den ich mit meinem Schlüssel in Betrieb setze. Im sechtzenten Stockwerk jogge ich dann gleich zur Kaffeemaschiene und mache mir einen Espresso, den ich dann mit einem Macchiato runter spüle. Ohne weiteres setze ich mich an meinen Schreibtisch. Ich bin einer der Ersten, die zur Arbeit erscheinen. Ich hätte mir Zuhause noch eine gute halbe Stunde Zeit lassen können, doch ich konnte mich nicht mehr länger mit Ethan streiten. Wir streiten sonst nie. Keiner von uns hatte je einen Grund dazu.

Um meinen Gedanken aus dem Weg zu gehen, schalte ich den Computer an und checke als erstes meine E-Mail Adresse. Zwei neue Nachrichten sind im Postfach. Als erstes klicke ich die an, welche ich von Alexander erhalten habe.

Guten Morgen Charlie,
Ich habe folgende Bitte an dich:
Lösche die Mail, direkt nach dem du sie gelesen hast.
Es geht um das, was letzte Nacht passiert ist. Ich habe heute früh viel darüber nachgedacht. Habe versucht, mich zu errinern und festgestellt dass das, was geschah, mehr als unprofessionell von mir war. Ich war betrunken Charlie und ich möchte nicht, dass das, was passierte, je wieder zur Sprache kommt. Außerdem möchte ich keinen falschen Eindruck erwecken. Ich bin nicht immer so. Ich bin dein Chef und kann diese Art von Verhalten meinerseits nicht gut heißen, also lass es uns einfach vergessen.
Und um wieder zu dem zu kommen, weswegen du eigentlich in dieser Firma angestellt bist:
Ich habe ein paar Papiere im Büro die ich dich bitten würde zu korrigieren. Hol sie dir um 8:30 am ab.

Ansonsten wünsche ich dir einen schönen Arbeitstag.

Mit freundlichen Grüßen,
Alexander Jones

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