10. Volatility

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Die zweite E-Mail überfliege ich nur grob. Es ist eine Rundmail in der geschrieben steht, dass es am Vormittag vor der Lunchzeit noch eine kurze Sitzung geben soll, wo sich alle Arbeiter dieses Apteils treffen sollen. Jedoch interessiere ich mich nicht groß für die Vorträge von Jenna Jones, die dieses Meeting leiten wird. Und Kollegen kennen lernen will ich auch nicht, schließlich möchte ich mich auf meine Arbeit hier konzentrieren und allein mein Chef hält mich bereits davon ab.

Und bis ich diesen treffen kann, muss ich noch eine ganze Stunde warten. Ich entscheide also als erstes, mir etwas Frühstück zu besorgen bei dem Becker nebenan. Mit den paar Euro in meiner Hosentasche kann ich mir grade mal eine trockene Spinattasche leisten, die ich mit Leitungswasser runter spüle. Und damit habe ich schon sagen umwogene zwanzig Minuten überbrückt. Nice.

"Jones, es geht hier um ihre Firma, verstehen sie?" Ein älterer Mann im blauen Anzug läuft mit Alexander grade durch mein Apteil. Alex sieht genauso müde und angeschlagen aus, wie ich.
"Ihre finanzen sind um drei Prozent gesunken. Das macht sich nicht gut bei Neukunden."
"Ja, ich verstehe, Mister Donovan." Alex rauft sich gestresst durch die Haare.
"Wir litten in den letzten Monaten an massiven Verlusten, was die Mitarbeiter betrifft, aber wir stocken bereits wieder auf." Und bei diesem Satz bleiben sie vor meinem Tisch stehen. Jetzt streifen mich Alex Augen und kurz überkommt mich eine Gänsehaut. Auch der Mann mit dem grauen Schnauzbart sieht auf mich hinab.

"Das ist Charlie Dunn. Einer unserer neusten und jüngsten Mitarbeiter." Sollte er dabei nicht erwähnen, dass ich nur Praktikant bin?
"Er wird ein halbes Jahr bei uns beschäftigt, macht dann einen Abschluss und wird, wenn es gut läuft, noch weiter mit uns verkehren." Und das alles nach einem Arbeitstag? Ich glaube, Alex holt hier das Gelbe vom Himmel.

"Freut mich ihre Bekanntschaft zu machen, Mister Dunn." lächelt der alte Mann und reicht mir seine Hand. Und um Alex falsches Bild von mir zu unterstreichen, stehe ich auf und schenke dem Mann einen kräftigen Händeschlag.

"Freut mich ebenfalls. Ich muss gestehen, dass ich ihr Gespräch eben ein wenig belauscht habe und dazu kann ich nur anmerken, dass Jones seine Arbeit wirklich ausgesprochen gut macht." schleime ich in hohen Tönen und erhasche von ihm ein kurzes, beschämtes Lächeln. Donovan hebt beeindruckt seine Augenbrauen und schaut für einen kurzen Moment zu Jones, der sich schnell wieder fässt und selbstsicher drein schaut.

"Vielen Dank, Dunn. Sie haben sich bewiesen und können sich jetzt bitte wieder hinsetzen." Sein Lächeln verfliegt. Er nimmt seine Hand von meiner und sieht Jones mit einem bösen Blick an.
"Ich bin Geschäftsmann, Jones. Ich erkenne es, wenn mir Leute wie sie etwas verkaufen wollen." Hm, scheiße.
"Das sie Mitarbeiter haben, die sie zum Himmel loben, wenn sie es so wünschen, ist durchaus beeindruckend, dennoch haben sie Schulden. In ihren Akten steht, sie haben nicht einmal die Volatilität berechnet. Wissen sie überhaupt, wie das geht?" Vollkommen perplex starrt Jones ihn an. Man kann ihm ansehen, das sein Kopf komplett leer ist.

"Dunn, würden sie dem armen Mann helfen?" fragt er mich nun.

"Die Volatilität wird berechnet als Quadratwurzel aus der Varianz. Die Varianz wiederum wird ermittelt aus den absoluten Abweichungen eines Finanzinstruments im Verhältnis zum arithmetischen Mittel seines Kursverlaufes." rattere ich nur so runter und ernte die Aufmerksamkeit von beiden. Sie scheinen überrascht zu sein, dass ich soetwas weiß.

"Sogar ihr Praktikant kennt die Formel, Jones. Ich denke, nun habe ich genug gesehen." Und damit macht er stink wütend kert, doch Jones interessiert das nicht. Er sieht mich weiter an und meine nervösität steigt.

"Charlie..." sagt er. Öffnet seinen Mund, um weiter zu reden, bringt jedoch keinen neuen Satz zu stande. Jetzt dreht er sich nur um und verlässt den Raum voller Menschen, die uns bei diesem Szenario zusahen. Der komische Typ mit den Actionfiguren und der Cap klatscht in seine Hände und hört genauso schnell wieder auf als er bemerkt, wie unpassend das in diesem Moment ist.

Ich glaube, jetzt habe ich es doch bei Alexander verkackt.

Die Uhr schlägt bald 0830 und ich beschließe, aufzustehen und mich nocheinmal zu Jones zu wagen, der wahrscheinlich die ganze Zeit zwischen dem, was vorhin passiert war, und jetzt, wutentbrannt auf ein Foto von mir einstach. So jedenfalls stelle ich mir das vor, wobei ich nicht wüsste, woher er ein Foto von mir haben könnte ...
Einmal noch atme ich tief ein und aus, bevor ich an die Tür mit der goldenen Aufschrift klopfe.
"Ja bitte?" höre ich Alexander rufen, der schon ganz heiser klingt und dann öffne ich die Tür. Er hockt mit dem Gesicht über seinem Papierkram und schaut erst auf, als ich mich räuspere.

"Ich sollte Dokumente zum korrigieren bei ihnen abholen."
"Charlie." nennt er erneut meinen Namen. Ich weiß nicht, was ich in seine Körperhaltung hinein interpretieren soll. Er ist wahrscheinlich einfach nur durch mit den Nerven.
"Sei so gut und schließe hinter dir die Tür. Danach setz dich." weist er mich an und unterschreibt noch schnell die letzten drei Papiere, bevor er sich mir zuwendet. Ich habe die Tür geschlossen und mich bereits hingesetzt, als er aufsteht und einen Kreis um den Tisch zwischen uns macht. Vor mir bleibt er stehen und stützt sich auf dem Schreibtisch hinter ihm ab. Er mustert mich.

"Du musst dir keine Sorgen machen wegen dem, was da vorhin ablief. Du hast mich in keine Schwierigkeiten gebracht, falls du das denkst." sagt er nun und diesmal bin ich der Überraschte.

"Wirklich nicht? Ich hatte schon die Befürchtung, dass ich vielleicht-"
"Schon gut." stoppt er mich. Es wird wieder für einige, lange Sekunden still im Raum, bis ich das Wort ergreife.
"Die Dokumente?" frage ich nach, er schütteln den Kopf.
"Nachher." sagt er.
"Charlie, ich versuche die ganze Zeit die Worte zu finden, die ich dir mitteilen will. Ich bin wütend auf dich. Und ich bin beeindruckt. Und..." Er hält inne.
"Ich kann nicht anders. Tut mir leid." Und in diesem Moment beugt er sich zu mir runter, zieht mein Gesicht zu sich und küsst mich.

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