Kapitel 6

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Nach der Schule sprintete ich nach Hause, warf meine Schulsachen in die Wohnung, rief: „Ich bin bei Thea!“, und war auch schon wieder aus der Tür geflitzt. Keuchend erreichte ich keine zwei Minuten später Joschas Haus, wo ich mich hinter den Apfelbäumen des Nachbars versteckte, und wartete. Das war ein hervorragendes Versteck, nicht weit vom Gartentor entfernt, das ich extra offen gelassen hatte (da es schrecklich quietschte, und drüberklettern unmöglich war, aufgrund von 20 Zentimetern hohen Stacheln, die es krönten), und gleichzeitig bot es einen guten Blick auf Joschas Haus, ohne dass er mich sehen konnte. Nur einen Nachteil gab es: Wenn mich sein Nachbar sah, war ich so gut wie erledigt, aber das Risiko ging ich ein.

Ich hatte nicht nur Glück mit dem Tag gehabt (hätte ja auch sein können, dass sie sich heute nicht trafen), sondern auch mit dem Versteck, denn wäre ich auf der Straße geblieben, hätte ich mit Sicherheit nicht gesehen, wie ein Fenster von Joschas Wohnung, dass zum Garten hinzeigte langsam aufschwang, und Joscha mit einem lautlosen Sprung im Gras landete. Geduckt huschte er durch den Garten hin zum gegenüber liegenden Zaun. Ich zögerte zuerst einen Moment, dann folgte ich ihm, geduckt an die Mauer gepresst, denn nur ein Zaun trennte mich von ihm und hätte er herüber geschaut, hätte er mich bestimmt gesehen. Als ich das Ende der Hauswand erreichte, blieb ich stehen, und beobachtete Joscha, wie er begann, über den Zaun, der zum anderen Nachbarn hinführte, zu klettern. Verdammt, wie sollte ich ihm dahin nur folgen? Ich wollte mich gerade von der Mauer lösen, als Joscha erschrocken in seinen Garten zurücksprang, und herumfuhr. Nun starrte er mich direkt an, mit großen Augen, und plötzlich totenbleich. Jetzt ist alles aus!, dachte ich, ebenfalls erstarrt, und von Sekunde zu Sekunde bleicher werdend. Gleich rennt er auf mich zu und schleppt mich zu seiner Bande! Mit pochendem Herzen wartete ich auf das Unvermeidliche, doch Joscha regte sich immer noch nicht. Was hat er bloß?, dachte ich, und schaute wieder zu ihm rüber. Erst jetzt merkte ich, dass der Blick nicht mir galt, er galt jemandem, der keine vier Schritte von mir entfernt sein musste. Meine Muskeln spannten sich, und alles in mir schrie nach Flucht, doch ich wusste: Wenn ich jetzt wegrennen würde, würde mich Joscha sehen. So begnügte ich mich damit, einen Blick um die Hausecke zu werfen, um zu sehen, was oder wer da Joscha so entsetzt hatte. Er war nicht zu übersehen. Ein junger Mann, vielleicht Anfang Dreißig, mit glatt zurückgekämmten Haaren, und einem leicht geröteten Gesicht hatte sich aufgerichtet, neben ihm auf dem Gartentisch lag ein dickes, aufgeschlagenes Buch. Erstaunlich, wie viele unwichtige Details man in einer Sekunde bemerken konnte. Plötzlich machte der Mann ein paar schnelle Schritte vor, und ehe ich mich versah, stand er fast neben mir, doch seine Aufmerksamkeit galt nur Joscha, der versuchte, sich langsam aus dem Staub zu machen.

„Ja, versuch du nur zu entkommen!“, rief der Mann wütend zu ihm hinüber. Bei seiner Stimme stellten sich die Härchen auf meinen Armen zu Berge, und ehe ich richtig registriert hatte, was ich tat, war ich schon vorsichtig rückwärts gekrochen, mein Körper schwebte dicht über dem Boden, während ich mich langsam Schritt für Schritt von diesem Grauen entfernte.

„Ich werde mir ihren Vorschlag zu Herzen nehmen, Herr Barwitsch!“, rief er, und stürmte los (Erst später erfuhr ich, dass der Name „Barwich“ lautete). Doch in seiner Stimme klang noch etwas anderes mit, etwas, was ich von ihm nicht kannte, und Joscha winkte auch nicht spöttisch zum Abschied, was er sonst bei keiner Gelegenheit vergessen hätte.

Inzwischen hatte ich die Haustür erreicht, und duckte mich im Türrahmen. Besorgt blickte ich Joscha hinterher, wie er auf die Straße lief, und dort erst einmal stehen blieb. „Mist, so ein Mist!“, fluchte er. „Jetzt muss ich offen auf der Straße entlangmarschieren!“ Er zog eine Grimasse. Lautlos löste ich mich aus dem Schutz der Haustür, als ich plötzlich Schritte hinter mir vernahm. Ich zuckte heftig zusammen, warf mich reflexartig flach auf den Boden und hielt den Atem an. Im nächsten Moment öffnete jemand die Haustür, schickte sich an, nach draußen zu gehen. Verflucht, jetzt war alles aus! Wenn man mich sehen würde … mir wurde schlecht vor Angst. Im nächsten Moment würde mich die Person sehen – doch gerade in diesem Augenblick blieb sie stehen, drehte sich um, und lief noch einmal, etwas vor sich hinmurmelnd, ins Haus zurück. Eine weitere Gelegenheit brauchte ich nicht. Wie der Blitz war ich auf den Beinen und jagte lautlos fluchend auf die Apfelbäume zu, war jedoch – Verflucht noch mal! – nicht schnell genug, um mich hinter ihnen in Sicherheit zu bringen, viel zu schnell war die Frau wieder aus dem Haus gekommen, dabei war ich bestimmt gerannt wie noch nie in meinem Leben. Platt an den Baum gelehnt stand ich dort, und betete, dass sie mich nicht entdecken würde. Ein Blick in meine Richtung hätte genügt, doch die kleine Frau, die nun aus dem Haus kam, schaute sich nicht einmal um. Schnurstracks lief sie auf das Gartentor zu und schimpfte leise vor sich hin: „Ts, ts, wer hat denn da das Tor offengelassen? Wen wundert's, wenn irgendwann die ganzen Verbrecher unser schönes Haus plündern?“ Kopfschüttelnd schloss sie das Gartentor hinter sich, wobei dieses ein so lautes Quietschen von sich gab, dass Joscha herumfuhr, jedoch erleichtert aufatmete, als er die kleine Frau sah.

„Verdammt, verdammt, verdammt“, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Das Gartentor war verschlossen, hinten im Garten saß ein schrecklicher Mann, der mich besser nicht in seinem Garten erwischen sollte, und Joscha marschierte gerade mit großen Schritten davon. Mir blieb also nur noch die Flucht über den Zaun, und egal zu welcher Seite ich fliehen würde, entweder würde mich Herr Barwich sehen, oder wenn ich über den Zaun, der an die Straße grenzte, klettern würde, Joscha.

Auf Deutsch gesagt: Ich war so gut wie geliefert.

Üble Flüche ausstoßend machte ich mich widerwillig daran, den Zaun, der zu Joschas Haus zeigte, hochzuklettern. Doch zu meinem grenzenlosen Erstaunen war das mehr als einfach, und Herr Barwich las unbeirrt in seinem Buch, sodass ich ungesehen in Joschas Garten gelangte, und geduckt loshuschte. Wenigstens einmal hatte ich Glück. Trotzdem erreichte ich nicht ungesehen die Straße, denn gerade da, als ich an die Hauswand gepresst um die Ecke schielte, um festzustellen, wo sich Joscha befand, schaute Herr Barwich von seinem Buch auf, und blickte direkt mich an.

„Diese kleinen Bälger heutzutage!“, hörte ich ihn murmeln. Nun wusste ich, was Joscha an ihm so beunruhigt hatte: Diese stechenden Augen, und das höhnische Lächeln, das immer um seine Lippen spielte, ließen ihn widerlich aussehen. Er hätte eine gute Rolle in einem Monster-Film bekommen können.

Ich beeilte mich lieber, von ihm wegzukommen. Nun folgte ich Joscha in einem sicheren Abstand durch die Straßen, durch die er mich führte, und als er auf Gordon, ein anderer aus der Gruppe, stieß, hielt ich mich noch weiter zurück, und folgte ihnen umso vorsichtiger.

Ronjas Gruppe hatte eine kleine Holzhütte, wo sie sich immer trafen. Aber Joscha und Gordon führten mich zu nichts dergleichen. Sie liefen ein Stück in den Wald, wo zwei Flüsse zu einem wurden, denn dort war ihr Treffpunkt, hier warteten auch schon die Anderen. Und hier hätte niemand sie vermutet, wohl auch niemand sie gefunden, also war das Versteck in dieser Hinsicht ein gutes. Doch für mich war es mehr als mies: Hier gab es keine Sträucher, hinter denen man sich verstecken konnte, denn das Flussufer war von jungen Bäumen und Steinen gesäumt. Deshalb musste ich ein Stückchen abseits in Deckung gehen. Gemütlich war es hier nicht gerade, und der Fluss verschluckte einen Großteil der Geräusche, sodass ich mir am Abend, als ich mit verspannten Muskeln, und einer Laune, die unter dem Nullpunkt lag, nach Hause kam, nur folgendes zusammenreimen konnte: Sie glaubten mir meine Geschichte nicht, aber das wusste ich ja bereits. Außerdem waren sie der Meinung, dass ich irgendetwas mit „all dem“ zu tun hatte, sie konnten sich nur nicht zusammenreimen, was. Zum Glück hatte niemand von ihnen die Kette als Grund erwähnt, aber wer würde auch schon glauben, dass ich die Zicken ausspionieren würde, weil sie mir die Kette gegeben hatten?

Aber es gab jemanden, der Verdacht schöpfte: meine Eltern. Als ich am Abend mit nassen Knien und Zweigen in den Haaren nach Hause kam, wunderten sie sich schon.

„Ria, wo bist du denn den ganzen Nachmittag gewesen? Hast du mit Thea die Wälder umgegraben?“, fragte mein Vater lächelnd, doch in seinen Augen war leichte Sorge zu sehen.

„Was ist denn los?“, wollte ich misstrauisch wissen. „Seit wann habt ihr denn etwas dagegen, wenn ich im Wald spiele?“

„Nein, natürlich haben wir nichts dagegen“, warf meine Mutter ein, „Es ist nur, weil, ... du warst früher immer nur ganz selten weg, und jetzt ... jetzt bist du fast jeden Tag irgendwo. Da wundern wir uns eben nur, was du da jeden Tag machst.“ Ich verzog das Gesicht.

„Die Zeiten ändern sich!“, entgegnete ich vielleicht eine Spur zu hart. Schnell fügte ich hinzu: „Ich spiele jetzt halt gerne draußen, und zwar nicht mit Jungs!“ Mein Vater grinste mich an, allerdings ließ meine Mutter nicht so schnell nach.

„Dürfte ich auch erfahren, was mein Kind so Tag für Tag macht? Seit wir hier sind, höre und sehe ich von dir fast genauso wenig, wie dann als wir noch weg waren.“

„Stimmt.“ Ich runzelte die Stirn. Ich wollte nicht schon wieder lügen, und so legte ich mir die Worte so zurecht, dass sie zwar die Wahrheit waren, man allerdings, wenn man sie hörte, etwas anderes dabei denken konnte. Das war meine Spezialität.

„Wir haben in der Klasse eine Gruppe, mit Ronja und noch ein paar Anderen. Mit denen und ihren Bandenangelegenheiten habe ich mich in letzter Zeit beschäftigt. Schließlich sind ihre Bandenangelegenheiten jetzt auch meine“, sagte ich mit einem Lächeln, und hoffte, dass sie nicht weiter nachfragen würden. Und diesen Gefallen taten sie mir auch.

Schimmernd wie PyritWo Geschichten leben. Entdecke jetzt